Das Nichtaggressionsprinzip ist ein Schwindel und damit sollte man sich zurechtfinden

von Oleksandr Zilber

Eines der großen Probleme der freiheitsbezogenen Ideologien ist die Methodologie, im Rahmen derer die jeweiligen Philosophien entstehen. Seitdem es die Österreichische Schule gibt – ja schon lange davor – entwickelten sich die Ideen der Freiheit mit der Intention, der Menschheit ein wohlhabendes, selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu ermöglichen. Abhängig von den zeitgenössischen Tendenzen treten unterschiedliche Vorschläge, wie man das Freiheitsideal erreichen soll, hervor. Viele davon führen in eine Sackgasse und verwandeln sich in eine blinde Befolgung von immanenten Prinzipien. Dazu zählen Versuche, die Welt zu diesen Prinzipien zu bekehren. Der konsequente Libertarismus, also Anarchokapitalismus ist eines davon.

Von McNuke, Gewaltandrohung und anderen schwammigen Externalitäten

Im Extremistan, wie Nassim Taleb unsere chaotische Welt bezeichnet, ist die Spaltung der Ideologien in immer mehr kleinere Zweige unüberwindlich. Es gibt eben so viele Meinungen, wie es Menschen gibt. Ob Sunniten oder Schiiten im Islam, ob Bolschewiken oder Sozialdemokraten im Sozialismus: nichts kann der Zersplitterung des jeweiligen Gedankenguts in kleinere Teile entfliehen. So geht es auch dem Libertarismus.Nicht mal in dieser Philosophie gibt es eine Einigung darüber, wie das alltägliche Leben geregelt werden soll. Laissez-faire scheint ein längst überfälliges und veraltetes Grundprinzip zu sein, an seine Stelle trat unter anderem dank Murray Rothbard seinerseits das NAP – das Nichtaggressionsprinzip. Die Geisteshaltung aus dem 19. Jahrhundert grenzte das Individuum vorerst von den staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft ab, das NAP setzt zusätzlich die Möglichkeit der Selbstwehr voraus, und zwar nicht nur auf der ökonomischen, sondern auch auf der physischen Ebene. Es besagt: tu mit deiner Freiheit und deinem Eigentum alles was du willst, solange du nicht die Freiheit und das Eigentum anderer dadurch einschränkst oder beschädigst. So weit, so gut.
Die ersten Probleme treten schon dann auf, wenn die Diskussion über die Grenzen der Freiheit und des Eigentums in den Kleinigkeiten des Alltags entflammt. Wer entscheidet, ob ich mit einer Androhung von Gewalt das NAP überschreite? Wer entscheidet, ob ich einen vermutlichen Verbrecher, der mir Gewalt antun will, mit einem präventiven atomaren Angriff außer Gefecht setzen darf? Darf ich in meinem privaten Garten radioaktive Abfälle vergraben, die erst nach 500 Jahren die ganze Stadt vergiften würden? Nicht umsonst kursieren scherzhafte Memes im Internet über das berüchtigte McNuke: eine private Version einer Atomwaffe, die jeder ungehindert und ohne Rücksicht auf alle seine Mitmenschen einsetzen könnte, um seine Freiheit und sein Eigentum um jeden Preis zu schützen. Solche Diskussionen führen zur Spaltung des liberalen Gedanken in klassisch liberale beziehungsweise minarchistische und libertäre beziehungsweise anarchokapitalistische Richtungen. Beide beschäftigen sich mit der Frage, wer denn die Letztentscheidung in einem Konfliktfall treffen soll. Die klassischen Liberalen behaupten, man könne die Macht des Staates aufs Wesentliche, auf seine Kernfunktionen reduzieren, nämlich die der Sicherheit und der Gesetzgebung. Die libertären Philosophen und Ökonomen wie Hans-Hermann Hoppe und Rothbard bestanden dagegen auf einer vollständigen Privatisierung der Gesellschaft, in der die Versicherungs- und Sicherheitsunternehmen für Frieden sorgen würden. Nur sind beide Ideen leider nicht ohne Mängel.

Nicht einmal Gott kann es jedem recht machen – oder doch?

Die Geschichte zeigt uns die Folgen der Existenz eines Staates oft sehr deutlich, und auch Ludwig von Mises hat die einfache Wahrheit postuliert: sobald der Staat mit interventionistischer Politik anfängt, landet er früher oder später im vollständigen Sozialismus. Hayek beschrieb in seinem „Der Weg zur Knechtschaft“ wie das genau abläuft. Ebenfalls die USA, einst ein Minimalstaat der freiheitsdenkenden Gründerväter, entwickelte sich nach 200 Jahren zu einem imperialistischen Global Player, dessen Interventionen weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus reichen.
Die Träume der anarchokapitalisten Denker lassen sich ebenfalls kaum umsetzen. Sobald man Europa verlässt, kann sich das Nichtaggressionsprinzip nicht im Rest der Welt allgegenwärtig durchsetzen, denn im Weg stehen eine Vielzahl von verschiedenen Kulturen und Religionen, die andere gesetzlichen und moralischen Normen befolgen. Darf mir  der Obstverkäufer in einem abgeschotteten Dorf in Saudi-Arabien den Arm nach dem Scharia-Gesetz abschneiden, nachdem ich ein Apfel aus seinem Laden geklaut habe? Ist solch eine Maßnahme im Rahmen des NAP zulässig? Wer entscheidet darüber? Wo sind die Grenzen der Selbstverteidigung? Auch in einer hypothetischen Welt, in der das NAP herrscht, würden sich schnell größere Sicherheitsunternehmen nicht davor scheuen, den eigenen Marktanteil mit Gewalt durchzusetzen – und willkommen ist der nagelneue Staat wieder, den man so sehr gehasst hat. In einer Welt, wo Milliarden von Menschen mit unterschiedlichen Traditionen und moralischen Vorstellungen miteinander existieren, sind Konflikte unvermeidbar. Wie verhindert man in solch einer Anarchie die Geburt eines nächsten Leviathan von Hobbes?
Das Problem ist, das Recht des Stärkeren kann eine alleinige Forderung, was das Nichtaggressionsprinzip ist, nicht außer Kraft setzen. Die Lösung dieses Problems tauchte schon  1860 auf, unter dem Namen „Panarchie“ vom belgischen Ökonom Paul Émil de Puydt. Durch einen glücklichen Zufall entstand um diese Zeit, 1849, der Aufsatz eines anderen belgischen Ökonomen Gustave de Molinari „Die Produktion der Sicherheit“, der als das allererste Plädoyer für den Anarchokapitalismus betrachtet wird. Beide Werke waren ihrer Zeit voraus, aber der von de Puydt geprägte Begriff der Panarchie ist erst heute vom besonderen Interesse. Das liegt zumindest daran, dass die Macht des interventionistischen Staates wahrscheinlich zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte nicht durch politische, moralische oder ideologische Forderungen, sondern durch ein praktisches Instrument eingeschränkt werden kann. Dieses Instrument ist die Blockchain-Technologie, die aus der von Hayek beschriebener spontaner Ordnung auf dem Markt entstanden ist. Schon heute treten Staaten der Westfälischen Ordnung miteinander in Wettbewerb, wer die beste Jurisdiktion für die Entwicklung von Kryptowährungen anbietet. Das tun sie, weil sie die erhebliche ökonomische Macht des neuen freien Marktgeldes nicht mit Gewalt beseitigen können. Also müssen die Staaten ein besseres Angebot schaffen. Diejenigen, die das nicht tun werden, werden untergehen – wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch.

Die Anarchie ist tot, lang lebe die Panarchie

Die Konzeption der Panarchie handelt von einem politischen System, in dem der Staat nicht als ein Aggressor, sondern als ein marktübliches Unternehmen agiert. Bürger werden somit zu Kunden und aus einer Bürgerschaft wird eine Mitgliedschaft in der jeweiligen Jurisdiktion. In solch einer gesellschaftlichen Ordnung steht es jedem Menschen frei, seinen Staat nach dem eigenen freien Willen und Budget auszusuchen, zu wechseln oder aus einem auszutreten. Gesetze sollen daher nicht auf Territorien, sondern auf Rechtssubjekte – einzelne Menschen – angewendet werden. Magdeburgisches Recht, Lübisches Recht, internationales Seerecht, Völkerrecht – das alles sind Beispiele für funktionierende Panarchie, die aber nur den politischen Eliten zur Verfügung steht. Besitzer von Diplomatenpässen stehen letztendlich unter dem Rechtsschutz des eigenen Staates, den sie vertreten, egal, in welchem anderen Staat sie sich befinden. Wenn aber jeder sich seinen Staat und sein Recht frei aussuchen kann, sollten Konflikte und Kriege aufs Minimum reduziert werden. Sollen doch Amische und Reichsbürger, Monarchisten und Demokraten, Christen und Muslime in ihren freiwillig gewählten Rechtsprechungen leben und wirtschaften, ohne von einem zentralistischen Staatsmonopol gezwungen werden, miteinander in Unmut zu leben. Jeder soll die Möglichkeit haben, sich frei zu assoziieren oder sich von anderen umzuzäunen. Dank der Blockchain-Technologie ist das keine Utopie mehr.
Interessant wird die Panarchie in diesem Zusammenhang eben dann, wenn man beobachtet, wie die Idee von de Puydt heutzutage umgesetzt wird. Bitnation, Freeland, Blue Frontierts – das sind bereits funktionierende Projekte, die es ermöglichen, mit Hilfe der Blockchain freie Regierungsformen aufzubauen, die den Gesetzen des Marktes gehorchen. Gesetzgebung, Arbitrage und Vollstreckung sind kein Staatsprivileg mehr, sondern eine Dienstleistung. Somit werden Staaten zu freiwilligen Rechtsprechungen, die kein Gewaltmonopol auf einem Territorium haben. Die Blockchain soll die vertraglichen Verhältnisse solcher Rechtsprechungen festhalten und die Panarchie für alle zugänglich zu machen. Solche Projekte machen es wirklich allen recht, ohne auf abstrakte Moral wie das NAP und ebenfalls ohne auf einen gutmeinenden, aber prinzipiell korrupten Minimalstaat zu setzen. Die Zukunft gehört der Welt, in der jeder selbst wählen darf und tatsächlich kann, ob und von wem er regiert wird. Und die Panarchie ist auch das, was den inneren Konflikt im liberalen Gedankengut auflöst: wer will, kann in einer wilden Anarchie ohne Gesetze und Moral leben oder in einem wettbewerbsfähigen exterritorialen Staat einen Mitgliedschaftsvertrag schließen. Alle sind zufrieden.
Dieser Artikel spiegelt die Meinung des Autors, nicht der Organisation wieder. Dieser Blog bietet die Plattform für sehr unterschiedliche liberale Ideen. Mehr zur Organisation auf www.studentsforliberty.de
 

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