Europas Freizügigkeit – ein ausbauwürdiges Erfolgsmodell

von Kalle Kappner

Studienaufenthalt in Rom, fürs Praktikum nach Paris, zum Arbeiten nach London: Junge Europäer genießen eine historisch kaum dagewesene Freizügigkeit und sehen nationale Grenzen eher als lästige Bürokratiestationen denn als echte Hindernisse an – nur wenige Länder der Welt können sie mit ihrem Pass nicht ohne weiteres betreten. Für den Großteil der Menschen weltweit stellt sich die Situation indes grundlegend anders dar. Das Besuchen vieler anderer Länder, darunter jener Europas, ist ihnen entweder grundsätzlich verboten, oder nur unter außergewöhnlichen Bedingungen möglich, etwa im Rahmen eines Asylgesuchs. Liberale sollten sich für ein Recht auf Freizügigkeit aller Menschen einsetzen. Europas Erfolgsmodell sollte dabei als Inspiration, nicht als gegen außen zu verteidigendes Bollwerk verstanden werden.
Was bedeutet Freizügigkeit?
Freizügigkeit ist das Recht, dort zu leben und zu arbeiten, wo man möchte. Die Freizügigkeit zwischen Köln und Düsseldorf akzeptieren wir ganz selbstverständlich, jene zwischen Baden und Württemberg seit einigen Jahrhunderten, und jene zwischen Deutschland und Frankreich seit einigen Jahrzehnten. Freizügigkeit zwischen Europa und Afrika scheint den meisten Menschen dagegen absurd. Das liegt nicht an fehlender Nachfrage: Regelmäßige Umfragen und die aktuelle Fluchtmigration zeigen, dass viele Menschen legal nach Europa wandern würden, wenn sie denn dürften. Prima facie scheint dieses Anliegen legitim: Weshalb sollten Europäer anderen Europäern Freizügigkeit gewähren, die meisten Nicht-Europäer aber ausschließen dürfen?
Nationen sind keine Clubs
Manch einer hat prinzipielle Einwände: Nationen seien als Clubs zu verstehen, und Clubs hätten selbstverständliche das Recht, ihre Mitglieder selbst auszuwählen. Da es innerhalb der demokratisch verfassten Club-Staaten Europas zwar Mehrheiten für den problemlosen Wechsel vom einen in den anderen Club gäbe, aber keine Mehrheiten für die Ausweitung der Mitgliedschaft auf Menschen aus anderen Teilen der Welt, sei die Einschränkung ihrer Freizügigkeit legitim.
Doch dieser Ansatz ist wenig überzeugend. Zum einen könnten Mehrheiten demnach die absurdesten, der Lebenswirklichkeit widersprechenden Regeln aufstellen – etwa ein Ende der Freizügigkeit entlang des Rheins oder die Abkehr von der Praxis, den Kindern von Mitgliedern ebenfalls unbedingte Mitgliedschaft zu gewähren. Doch wichtiger ist, dass gravierende Konflikte mit fundamentaleren, den Kern des Liberalismus ausmachenden Individualrechten auftreten. Die wirksame Einschränkung der Freizügigkeit entlang nationaler Clubgrenzen erfordert es nämlich, allen Clubmitgliedern unter Gewaltandrohung zu verbieten, Fremde in ihr Haus einzuladen und dort mit ihnen zu leben und zu arbeiten.
Kein freier Zuzug in den Sozialstaat
Ein wichtiger Einwand lautet, dass der Zuzug Fremder potenziell negative Konsequenzen für den Rest des Clubs habe – zögen die vielen Flüchtlinge im Gegensatz zu europäischen Binnenmigranten nicht gerade aufgrund der steuerfinanzierten Sozialleistungen und öffentlichen Güter hierher? Selbst wenn ein Recht auf freie, grenzüberschreitende Assoziation im Rahmen von Privateigentum legitim sei, stünde es in der Praxis doch im Konflikt mit dem ebenfalls legitimen Recht, das Leben anderer nicht per Steuern finanzieren zu müssen.
Doch sollten wir im Fall konfligierender Rechte nicht zunächst nach Lösungen suchen, die die Rechte aller Menschen wahren statt sie gegeneinander abzuwägen? Die in Europa bereits gelebte Praxis zeigt, dass es auch anders geht. Schon heute haben keineswegs alle Bürger eines EU-Staates bedingungslosen Zugang zu den Sozialleistungen anderer EU-Staaten. Im Falle dauerhafter Arbeitslosigkeit kommt es sogar zur Ausweisung. Gewiss ist vielen Europäern aufgrund ihrer Sozialisation im vermeintlich universalistischen Sozialstaat mulmig bei der Vorstellung, Menschen aus ärmeren Gegenden der Erde ein Aufenthaltsrecht ohne gleichzeitigen Zugang zu staatlichen Leistungen zu gewähren – doch das sollte Liberale nicht davon abhalten, für ihre guten Ideen zu werben.
Freizügigkeit robust gestalten
Manchen Zeitgenossen bereiten schließlich bei aller grundsätzlichen Sympathie die möglichen praktischen Konsequenzen der Freizügigkeit Sorgen: Der demokratische Rechtsstaat sei schlicht nicht vorbereitet auf den massenhaften Zuzug von Menschen mit anderen Wertvorstellungen – insbesondere solchen, die dem westlichen Modell feindlich gegenüberstehen. Unter Europäern sei Freizügigkeit aufgrund der gemeinsamen Geschichte und kulturellen Prägung unproblematisch, doch den Zuzug erzkonservativer Muslime könne keine europäische Demokratie auf Dauer aushalten.
Indes ist es schwer, die Verbindlichkeit solcher politisch-kulturellen Externalitäten eindeutig zu fassen. So nehmen viele Europäer die Ausbreitung von Parallelgesellschaften am Rande ihrer Hauptstädte als eine ihr politisch-kulturelles Selbstverständnis angreifende Veränderung wahr, selbst wenn ihr eigenes Leben dadurch nur marginal betroffen ist. Gleichzeitig würden die wenigsten ein Recht darauf anerkennen, das eigene Wohnviertel gegen den Zuzug englischsprechender Gentrifizierer oder italienischer Pizzabäcker zu schützen. Man kann nicht abstreiten, dass gelebte Freizügigkeit stets mit kulturellem Wandel verbunden ist, doch wir können Konzepte entwickeln, die dessen negative Konsequenzen abmildern und die Robustheit des Rechtsstaats steigern – zum Beispiel über eine stärkere Trennung des Aufenthaltsrechts vom staatsbürgerlichen Wahlrecht und die Entpolitisierung identitätspolitisch aufgeladener kultureller Fragen.
Europas Erfolgsmodell für alle
Der Sozialphilosoph Robert Nozick argumentierte, „freiwillige Handlungen zwischen einwilligenden Erwachsenen“ seien prima facie stets zu tolerieren – auch, wenn diese Erwachsenen unterschiedliche Pässe besitzen.[1] Ist es wirklich vorstellbar, Freizügigkeit als individuelles Recht statt als Gnadenakt eines Club-Vorstands zu realisieren, ohne unbedingten Zugang zu Sozialleistungen und ohne unbedingtes Wahlrecht? Gewiss haben Befürworter der Freizügigkeit einige Überzeugungsarbeit vor sich. Doch das nun seit Jahrzehnten währende europäische Erfolgsmodell offener Grenzen – zunehmend über die kulturellen Grenzen, politischen Unterschiede und ökonomischen Ungleichheiten dieses großen Kontinents hinweg – stimmt optimistisch. Eine frei(zügig)ere Welt ist möglich!
 
1:Robert Nozick: Anarchy, State, and Utopia, S.163
 
Dieser Artikel spiegelt die Meinung des Autors, nicht der Organisation wieder. Dieser Blog bietet die Plattform für unterschiedliche liberale Ideen. Mehr zur Organisation auf: www.studentsforliberty.de
 

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