Massenproteste im Libanon: die etwas andere Oktoberrevolution

von Maroun Attieh

‚Dem Konfessionalismus – Revolution! Dem Klientelismus – Revolution! Den Milizen – Revolution!‘ skandieren die Demonstranten. Seit nun einer Woche heizen Massenproteste den Libanon auf. Doch wenige Tage davor brannte das Land wortwörtlich. Entlang der Mittelmeerküste entfachten sich die schrecklichsten Waldbrände seit Jahrzehnten. Nur mit Hilfe aus Zypern und Griechenland konnte das Feuer gelöscht werden. Die Regenschaue,r die darauf folgten fühlten sich wie ein Wunder an, wie der Segen eines wohlwollenden Regengottes.
In einem Libanon der seit Monaten tief in der Wirtschaftskrise steckt erinnerte die Naturkastrophe die Menschen daran, dass sie nun ihrem Schicksal ausgeliefert waren. Die explodierende Arbeitslosigkeit, der drohende Währungskollaps aber auch die wiedergeborene Zensur der Medien durch die Politik zeigten den Menschen klar, dass sie die Kontrolle über die Zukunft des Landes verloren hatten. Nun fühlten sie sich auch hilflos gegenüber der Willkür ihrer Umwelt.
Auf den ökologischen Skandal reagierte die Politik mit schamloser Gelassenheit. Innenministerin Raya el Hassan gab zu, dass die Wartung der drei Sikorsky S-70 Brandkämpfungshubschrauber aus finanziellen Gründen ausgefallen war. Trotz exorbitanter Staatsverschuldung fehlen im Libanon auch in anderen genauso fundamentalen Bereichen Mittel: Stromausfälle gehören zum Alltag, die Trinkwasserversorgung ist mangelhaft, funktionierende öffentliche Verkehrsmittel kennen die Libanesen nur aus Auslandsreisen. Das Beispiel der libanesischen öffentlichen Verkehrsmittel verkörpert wunderbar die Absurdität der staatlichen Ineffizienz. Die libanesische Eisenbahnverwaltung hat ein Budget von über 8 Millionen Dollar und beschäftigt über 300 Angestellte. Sie betreibt aber keine Eisenbahn, denn der Großteil der Linien fiel bereits in den 70er Jahre dem Bürgerkrieg zum Opfer. Sie wurden nie wieder aufgebaut.
Am Abend nach den Waldbränden wurde die Einführung der sogenannten ‚Whatsapp-Steuer‘ angekündigt. Diese Steuer auf bisher kostenlose Onlineanrufe soll dem Staat weitere Einnahmen garantieren und zum Ausgleich des Defizits beitragen. Der Wut war groß. Innerhalb weniger Stunden stürmten Tausende Demonstranten die Straßen. Autobahnen wurden blockiert, in den Innenstädten riefen die Menschen die Regierung zum Rücktrifft auf. Laut den Demonstranten werden die seit Jahren steigenden Steuern nur die Korruption der politischen Klasse weiter finanzieren. ‚Der Staat ist nicht bankrott – der Staat wird geplünderet!‘ wiederholen die Demonstranten in den lahmgelegten Innenstädten.
Nepotismus ist in der libanesischen Politik weit verbreitet. Die politische Landschaft ähnelt dem Stammbaum ehemaliger Milizionäre. Nach dem Bürgerkrieg tauschten diese einfach ihre Milizuniformen für Politikeranzüge ein. Drei Jahrzehnte nach Kriegsende verteilten sie weiterhin bequem politische Macht und Wohlstand auf ihre Kinder, Enkelkinder und Schwiegersöhne: Außenminister Gebran Bassil, der scharf unter Kritik für seine repressive Politik steht, ist Schwiegersohn des libanesischen Präsidenten Michel Aoun.
Das einst gespaltene Volk schaute lange in Ruhe zu. In den Politikern sahen viele die Repräsentanten ihrer jeweiligen Gemeinschaften. Konfessionalismus heißt das eigenartige politische System des Libanons: die 18 anerkannten Konfessionen des Landes sollen dadurch politisch repräsentiert werden. Unter anderem ist der Präsident immer maronitischer Christ, der Premierminister immer sunnitischer Muslim. Lange wurde das System als Garant für Stabilität und Frieden gesehen. Im Lichte des kläglichen Scheiterns der Regierung sind aber sogar ehemalige Systemsenthusiasten skeptisch geworden. Für viele Libanesen reimt sich Konfessionalismus heute auf Korruption und die weitere Spaltung der Gesellschaft entlang religiös-ethnischer Linien.
Alarmiert durch das Ausmaß der spontanen Protestbewegung kündigte die Regierung zügig Reformen an. Die Gehälter von Ministern sollen um 50% gekürzt werden, auf Steuererhöhungen soll verzichtet werden. Die Demonstranten kann das aber nicht überzeugen: sie fordern den sofortigen Rücktritt der Regierung und eine komplette Überholung des politischen Systems. Für den Rest der Woche sind weitere Proteste geplant.
Wie die Proteste ausgehen werden, bleibt natürlich unklar. Diese als weiteres Kapitel des arabischen Frühlings zu deuten, wäre allerdings ein Fehler. Der Libanon hatte bereits 2005 eine Massenprotestbewegung. Erfolgreich wurde der Abzug der Besatzungskräfte Bashar el Assads gefordert. Eine Abrechnung mit der eigenen politischen Klasse blieb bisher aber aus. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes lassen die Menschen heute ihre konfessionellen Differenzen hinter sich und kämpfen Hand in Hand für gleiche Rechte, Transparenz, und Eine Rechenschaftsplicht in der Politik. ‚Der Bürgerkrieg endet heute‘ heißt es auf bunten Plakaten in den lauten Straßen Beiruts.
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