Bryan Caplans „Open Borders: The Science and Ethics of Immigration”

von Alexander Albrecht

(Im)Migration polarisiert. Wenn man hier in Deutschland an Migration denkt, drängen sich sofort die Bilder von kenternden Flüchtlingsbooten, weinenden Kindern an Grenzzäunen und den überfüllten Flüchtlingsunterkünften ins Gedächtnis. Die letzten Jahre skizzieren Migration als chaotischen und unkoordinierten Zustrom wildfremder Menschen nach Deutschland; angelockt vom Land, in dem Milch, Honig und Sozialleistungen fließen. Unser Bild ist hierbei so massiv von politischen Grabenkämpfen und Misskommunikation geprägt, dass ein regelrechtes Zerrbild entstanden ist. Dabei kann Migration auch ganz katastrophenfrei von statten gehen, wie zuletzt Florian Hartjen vom Prometheus Institut so treffend schrieb. 
Einen Ansatz zur katastrophenfreien Lösung des Problems vertritt Bryan Caplan, Ökonomieprofessor an der George-Mason-Universität. Anstatt im klein-klein zu entscheiden, welcher Migrant wann wo zu welcher Zeit zu uns kommen sollte, wäre es viel sinnvoller, die Grenzen gleich komplett zu öffnen. Jeder der will, darf kommen. Was sich zuerst nach utopischer Träumerei anhört, ist in akademischen Kreisen bereits seit langer Zeit ein viel diskutiertes Thema. Wissenschaftliche Arbeiten über die philosophischen Fundamente von offenen Grenzen und deren wirtschaftlicher Implikationen finden sich zuhauf. Caplan veröffentlichte im Oktober 2019 zusammen mit dem Cartoonisten Zach Weinersmith jedoch die wohl weltweit erste Graphic Novel über das Thema. In den circa 200 Seiten werden die wissenschaftlichen Argumente für offene Grenzen durch liebevolle Grafiken treffend untermalt, was einen erfrischenden Kontrast zu den zahlreichen Diagrammen und Tabellen darstellt, auf die man bei ökonomischen Argumenten nun einmal schwer verzichten kann. Nichtsdestotrotz ist das Buch durch seine einfache und verständliche Sprache auch für fachfremde Leser interessant. Aber nun mal Butter bei die Fische, warum sollte man denn nun offene Grenzen befürworten?
Das moralische Argument
Wir haben in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, verschiedene Formen der Diskriminierung nach arbiträren Merkmalen, sei es Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung, einzudämmen, obgleich wir noch nicht am Ende dieser Entwicklung angekommen sind. Warum sollten wir bei dem Geburtsort eines Menschen hier einen Unterschied machen? Die philosophischen Grundlagen für offene Grenzen sind mannigfaltig. Egal ob man einen utilitaristischen, egalitären, libertären oder kantianischen Ausgangspunkt wählt, offene Grenzen sind für Caplan immer logisch aus den philosophischen Axiomen der Denkschulen ableitbar.
Aber was ist denn mit…?
Sicherlich erscheint vielen Menschen das moralische Argument für offene Grenzen schlüssig. Es sei zwar nachvollziehbar, dass Menschen aus ärmeren Ländern in bessere Verhältnisse streben, jedoch wäre aufgrund der zahlreichen Nachteile für das aufnehmende Land eine Grenzöffnung nicht praktikabel. Es gäbe ja schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung, wie dies Peter Sloterdijk in Bezug auf die Flüchtlingskrise ausdrückte. 
Caplan widmet sich solchen Gegenargumenten besonders behutsam, respektvoll und keinesfalls bevormundend. Die oftmals heraufbeschworene Tradeoff zwischen Wohlfahrtsstaat und freier Migration, beispielsweise schon von Nobelpreisträger Milton Friedman dargelegt, wird genauso ernsthaft thematisiert wie die Angst vor kultureller Überfremdung. Im Grunde sei auch an nahezu allen Einwänden etwas dran. Im konsequentialistischen Aufwiegen der Vorteile mit den Nachteilen wird jedoch klar, dass die kaum thematisierten riesigen Potentiale der freien Migration deren aufgebauschte Nachteile klar überwiegen. Fiskalischer Kollaps des Sozialstaats? Die überwiegende Mehrzahl der Migranten erarbeitet sich im Verlaufe des Lebens eine positive fiskalische Bilanz. Erosion der Freiheitsrechte? Migranten haben tendenziell ein eher moderat linksliberales politisches Profil. Massenarmut durch unqualifizierte Zuwanderung? Die Steigerung der Reallöhne in den Produktivländern stellt sowohl Einheimische als auch Migranten langfristig besser. Auf jedes Argument der Kritiker scheint Caplan die richtige Antwort zu haben. 
Offene Grenzen seien keineswegs ein Allheilmittel gegen jegliche Probleme der Gesellschaft. Immigrationsrestriktionen als Problemlösungen sind jedoch ein berühmtes Beispiel für Maslows Hammer. Ein Verbot von Migration wird wohl als alleinige Maßnahme kaum den Sozialstaat von seinen Problemen befreien und die kulturellen Wogen des Landes glätten. Vielmehr sei als politisch praktikabelste Lösung eine Kombination von offenen Grenzen und sogenannten „Keyhole solutions“ denkbar. Sollten kurzfristig die Belastungen für die einheimischen Geringverdiener zu hoch oder der Sozialstaat überfordert sein, kann man beispielsweise über bestimmte Einschränkungen der Sozialleistungen für Migranten nachdenken. Was zunächst unfair klingt, ist immer noch eine bessere Lösung als den Menschen die Einreise und Arbeit komplett zu verweigern. Oder, um es mit den Worten von Alex Nowrasteh zu sagen: Mauern um den Sozialstaat sind humaner als Mauern um Landesgrenzen.  
Fazit
Das Buch schafft es vielleicht auch aufgrund des Designs als Graphic Novel, nicht auf alle Nuancen der Immigrationsdebatte Bezug zu nehmen. Vielmehr begreift Caplan es als seine Aufgabe, die Idee der offenen Grenzen aus dem Elfenbeinturm in die Breite der Bevölkerung zu tragen und somit neue Befürworter für offene Grenzen zu rekrutieren. Aufgrund der einfachen Sprache eignet sich das Buch auch bestens als kontroverse Diskussionsgrundlage für Leute außerhalb der akademisch-liberalen Bubble. Mein Fazit daher: Eine äußerst lehrreiche und spannende Lektüre, die kein abschließendes Manifest der offenen Grenzen etabliert, sondern vielmehr den Leser motiviert, die Idee der freien Migration konstant weiterzuentwickeln und so deren inkrementellen Fortschritt anzukurbeln.  
Bryan Caplan und Zach Weinersmith: Open Borders – The Science and Ethics of Immigration, First Second: New York, 2019. 
 
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