Menschen hungern, führen Kriege, sterben durch Gewaltverbrechen und Naturkatastrophen. Wir müssen immer länger arbeiten, die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander und immer mehr Menschen sterben an Krebs. Die Welt, in der wir leben, wird immer schlimmer. Das ist zumindest der Eindruck, den man kriegen könnte, wenn man die täglichen Nachrichten verfolgt.
Dieser Perspektive stellt sich der schwedische Autor Johan Norberg mit seinem internationalen Bestseller Fortschritt: Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer entgegen, das nun dank der Übersetzung Clemens Schneiders auch auf Deutsch erschienen ist.
Dass unser Leben nicht nur nicht immer schlimmer wird, sondern wir tatsächlich in der wohlhabendsten und freiesten aller Zeiten leben, macht Norberg sehr anschaulich mit Hilfe einer Vielzahl wohlrecherchierter Erzählungen deutlich. Denn wenn man unser heutiges Leben vergleicht mit jenem des Großteils der Menschheit bis zum Anbeginn der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert, wird klar, dass es in jederlei Hinsicht wortwörtlich unvorstellbar besser ist. Über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg lebte der überwältigende Großteil der Menschheit am Existenzminimum, permanent bedroht von Hunger und jede Missernte konnte ganzen Gemeinschaften zum Verhängnis werden. Die Hygiene war erbärmlich, Fäkalien und Unrat wurden einfach auf die Straße geschüttet, wo sie der ideale Brutplatz für Krankheiten und Keime waren. Die medizinische Versorgung war rudimentär, Penicillin war ebenso unbekannt wie moderne Anästhetika. Amputationen und Operationen wurden also, wenn überhaupt, ohne Betäubung durchgeführt und die Gefahr, an einer einfachen Infektion zu sterben, war bei jeder Verletzung gegeben – selbst für Könige und Kaiser. Dazu kam alle paar Jahre ein neuer Krieg.
Ende des 18. Jahrhunderts, zu Beginn der Industriellen Revolution, lebten gerade einmal etwa 60 Millionen Menschen auf der Welt nicht in extremer Armut – waren also nicht permanent von Hunger bedroht. Heute sind es über 6,5 Milliarden. Einer, der sich den revolutionären Kampf gegen Armut und Unterdrückung auf die Fahne geschrieben hatte, war Karl Marx. Wie unwahrscheinlich schnell der Fortschritt seinen Lauf nahm, erkennt man daran, dass der einfache englische Arbeiter in Marx‘ Todesjahr 1883 bereits dreimal wohlhabender war als 1818, dem Jahr, in dem Marx geboren worden war – freilich ohne kommunistische Revolution, sondern dank des kapitalistischen Wirtschaftswachstums.
Aber den größten Fortschritt hat die Menschheit erst am Ende des 20. Jahrhunderts gemacht, als auch in den bevölkerungsreichsten Ländern der Welt die sozialistischen Experimente endeten und die Menschen beginnen konnten, sich Wohlstand zu schaffen. 1981 lebten weltweit noch 44,3 % der Menschheit in extremer Armut, 2015 waren es schon weniger als 10 %. Die weltweite Armut ist in den letzten 30 Jahren also durchschnittlich jedes Jahr um einen Prozentpunkt zurückgegangen – und das trotz stetig gewachsener Weltbevölkerung.
Auch Umweltprobleme werden vor allem dank des technologischen Fortschritts und des gestiegenen Wohlstands lösbar, wie Norberg mit Hilfe der Kuznets-Kurve erklärt. Denn erst ab einem gewissen Grad an Wohlstand, wenn die drängendsten Bedürfnisse befriedigt sind, fangen die Menschen an, Natur und Umwelt zu schützen. Dementsprechend löst sich auch das vermeintliche Paradoxon auf, dass gerade die wohlhabendsten Länder am meisten in Natur- und Klimaschutz investieren (können). Wem also die Umwelt am Herzen liegt, der sollte keinen Postwachstums-Doktrinen hinterherlaufen.
Dieser Wohlstandszuwachs bedeutet aber nicht einfach nur ein materiell angenehmeres, sichereres und längeres Leben. Er ermöglicht Milliarden Menschen einen Zugang zu Bildung und eröffnet eine Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben. Über den Großteil der Menschheitsgeschichte hinweg war es eine geradezu verschwindend kleine Minderheit, die überhaupt lesen und schreiben konnte. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren es gerade einmal 10 %. Die Alphabetisierungsrate steigt stets zeitlich lediglich leicht versetzt zum Wohlstandsniveau. So besuchten in Westeuropa und Nordamerika bereits Ende des 19. Jahrhunderts 90 % aller Kinder eine Schule. Während in Subsahara-Afrika, Asien und dem mittleren Osten im Jahr 1900 erst 10 % der Kinder zur Schule gingen, waren es 1990 bereits 50 % und heute sind es etwa 70 %. Weltweit liegt der Durchschnitt heute bei 86 %. Dabei sind es die ärmeren Länder, die am schnellsten aufholen können.
Mit einem gestiegen allgemeinen Bildungsniveau ging auch ein sich wandelndes Verständnis von Teilhabe und universellen Menschenrechten einher. Noch im Jahr 1800 gab es praktisch in allen Ländern der Welt Sklaverei – die wohl drastischste Form der Entmenschlichung. Heute gibt es keinen einzigen Staat mehr, in dem es legal wäre, Sklaven zu halten (auch wenn das leider noch nicht bedeutet, dass es tatsächlich keine Sklaverei mehr gebe).
Eine ähnliche Entwicklung nahm die Bedeutung demokratischer Mitbestimmung an politischen Prozessen. Noch im Jahr 1900 gab es schlicht keinen einzigen Staat auf der Erde, in dem jeder Mann und jede Frau die Möglichkeit hatten, an demokratischen Wahlen teilzunehmen. 1990, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Diktaturen gab es bereits 76 Demokratien, 46 % aller Staaten. 2015 waren es schon 125 (63 %).
Auch bei der Bekämpfung von Diskriminierung gegen ethnische Minderheiten, Frauen und Homosexuelle wurden erhebliche Fortschritte gemacht. Auch wenn es immer noch Vorurteile und Borniertheit gibt, wurden doch die rechtlichen Benachteiligungen weitgehend abgeschafft und die gesellschaftliche Akzeptanz ist auf einem Niveau, das es wohl noch nie gegeben hat. Das gibt zumindest Grund zur Hoffnung für weiteren Fortschritt.
Derart wird in diesem Buch eine dicht gedrängte Fülle an Fakten zu einer kurzweiligen, ja spannenden Lektüre verwoben. Alles in allem liefert Norberg ein starkes Lob des Liberalismus, ein geradezu unwiderstehliches Plädoyer für Marktwirtschaft, Rechtsstaat und dezentrale politische Entscheidungsfindung. Und er gibt den Kapitalismuskritikern jeglicher Couleur eine harte Nuss zu knacken – sofern sie überhaupt noch anknüpfen wollen an die alten Versprechen von Freiheit und Wohlstand und nicht schon längst im Zynismus der Postwachstumstheorien versauern. Angesichts all dieser Entwicklungen möchte man sie fragen, wann denn diese „gute alte Zeit“ gewesen sein soll, von der sich der Mensch im „Neoliberalismus“ so entfremdet habe.
Das alles heißt natürlich nicht, dass unsere heutige Welt perfekt wäre und es keine Probleme mehr zu lösen gebe. Manches wird davon abhängen, wie es uns gelingt, das Fundament dieses Fortschritts zu bewahren. Für viele wird es aber auch davon abhängen, inwiefern es den Schwellen- und Entwicklungsländern gelingt, zu den bisherigen Erfolgen aufzuschließen. Denn gerade die Menschen in jenen Ländern haben am meisten profitiert, die stabile rechtsstaatliche Institutionen etablieren und Anschluss an die Weltmärkte finden konnten. Der Weg dorthin ist aufgezeigt. Was im Westen noch Jahrhunderte dauerte, können nun die übrigen Länder binnen weniger Jahrzehnte aufholen. Eine noch bessere Welt ist also möglich. Und wir wissen wie.
Das Buch Fortschritt: Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer von Johan Norberg erschien 2020 im Finanzbuch Verlag in der Edition Prometheus.