Vor allem in Zeiten von Migration und Corona scheinen der Glaube an irrationale Verschwörungstheorien und Rechtsextremismus Hand in Hand zu gehen. Natürlich sind nicht alle Verschwörungstheoretiker rechts und nicht alle Rechtsextremen Verschwörungstheoretiker. Auch im liberalen, konservativen und linken politischen Spektrum mangelt es nicht an Vertretern von wirren Theorien und irrationaler Paranoia. Aber in rechtsradikalen und -extremen Kreisen scheint verschwörungstheoretisches Denken besonders prävalent zu sein und vor allem rechtsextreme Aktivisten fallen immer wieder damit auf. Man denke nur an QAnnons Mythos vom Deep State, gegen den Trump angeblich kämpft, oder an die identitären Erzählung vom Großen Austausch oder die Kathedrale der NRx.
Es gibt einen Grund, warum Rechtsextreme überproportionale häufig mit Verschwörungstheorien auffallen und der geht weit über eine durch mediales Framing verzerrte Wahrnehmung hinaus. Tatsächlich haben Verschwörungstheorien als politisches Werkzeug eine lange Tradition nicht nur in der Rhetorik und Praxis, sondern auch in den Theorien von rechtsextremen Bewegungen. Ihren Anfang nahmen sie dabei nicht erst mit den Nazis und ihren antisemitischen Propagandamythen von einer jüdischen Weltverschwörung.Sie haben ihre Geburt bereits in den Anfangsjahren des faschistoiden Denkens im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert, und konkret bei dem Theoretiker George Sorel und der Dreyfus-Affäre.
George Sorel (1847-1922) war ein französischer Sozialphilosoph, der mit 42 Jahren seine Ersparnisse nahm und seinen Brotberuf als Ingenieur aufgab, um zu philosophieren und zu schreiben. Zu Beginn entwickelte er sich als Intellektueller zu einem Sozialisten und dann überzeugten Syndikalisten und publizierte in entsprechenden linken Zeitungen.
Doch dann kam die Dreyfus-Affäre 1894 ins Rollen. Im Papiermüll der Deutschen Botschaft in Paris fand der französische Geheimdienst einen Hinweis darauf, dass geheime Militärdokumente der französischen Armee an das Deutsche Reich verkauft wurden. Das französische Kriegsministerium fand schnell einen vermeintlichen Schuldigen: Den französischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der als Elsässer einer deutschsprachigen Minderheit angehörte, damit ein Motiv besaß und Jude war, was in die antisemitischen Vorurteile der damaligen Zeit passte. Eine antisemitische Hetzkampagne ergriff die Medien und trotz dünner Beweislage und seines Beharrens auf seine Unschuld wurde Dreyfus zu lebenslanger Haft verurteilt und öffentlich vor 20.000 Zuschauern degradiert. Ihm wurden seine Abzeichen abgerissen und sein Degen zerbrochen. Anschließend wurde er in ein Gefängnis in Französisch Guinea verschifft. In der Zwischenzeit brachten von seinem Bruder angestoßene Untersuchungen zu Tage, dass viele der vermeintlichen Beweise gefälscht waren beziehungsweise gar nicht existierten und dass der wahre Schuldige der Offizier Ferdinand Walsin-Esterházy war, der Spielschulden hatte und daher Geheimdokumente an die Deutschen verkaufte. Der Prozess wurde neu aufgerollt, Esterházy aber freigesprochen, Dreyfus erneut öffentlich degradiert und diesmal statt zu lebenslänglich, zu nur zehn Jahren Haft verurteilt. Der Skandal zog sich mehrere Jahre hin, bis 1899 Dreyfus zwar nicht von einem Gericht freigesprochen, aber von der Regierung begnadigt und 1906 rehabilitiert wurde.
Die Skandale um die Dreyfus-Affäre polarisierten jahrelang das gesamte Land: in ein Lager der Dreyfusaner, das vor allem aus linken Intellektuellen bestand, die einen Freispruch forderten – und ein Lager aus antisemitischen Intellektuellen, das vor allem von der Kirche gestützt wurde. Die Affäre erschütterte Sorel. Zu Beginn war er als linker Intellektueller auf der Seite der Dreyfusaner. Insbesondere die Tatsache, dass Dreyfus – obwohl offensichtlich unschuldig – nicht von einem Gericht freigesprochen wurde wie ein normaler Bürger, sondern quasi von oben herab politische Amnestie erhielt, überzeugte Sorel aber davon, dass in Frankreich keine Gerechtigkeit herrschte, sondern die liberalen Eliten nach eigener Willkür die Politik gestalteten und selbst Wahlen daran nichts ändern könnten und eine Revolution umso notwendiger war.
Doch zugleich beobachtete Sorel fasziniert, wie der antisemitische Hass als eine Leidenschaft die Massen der Menschen gegen das intellektuelle Establishment mobilisierte und zwar in so einem Ausmaß, das von marxistischen und sozialistischen Ideen nie zuvor erreicht wurde. Sorel schlussfolgerte daraus, dass im Gegensatz zu entgegen denr trockenen Theorien des marxistischen Klassenkampfes, der Antisemitismus instinktiv in den Menschen vorhanden war und dadurch sich viel besser eignete, um die Massen gegen die herrschende Oberschicht zu mobilisieren. Sorel wechselte also in der öffentlichen Debatte die Seiten.
Ab diesem Punkt vollzog sich eine Wende in seinen theoretischen Überlegungen. Sorel begann über die Bedeutung von Mythen für den Umsturz der in seinen Augen dekadenten bürgerlichen Gesellschaft und deren Hierarchien zu theoretisieren. Ein Mythos ist für Sorel in diesem Kontext eine Vorstellung von einem heroischen, epischen Kampf und einem sich nähernden Unheil, die inhaltlich falsch sein mag, aber die Fähigkeit besitzt, die Menschen zusammenzubringen, ihnen klare Feindbilder und Ziele und damit die Energie für einen Umsturz und zu einer Veränderung der Gesellschaft zu geben, eben wie der Mythos einer jüdischen Verschwörung. Es war Sorel daebi egal, ob die Mythen wahr sind oder nicht. Was demnach zählt, ist welche Wirkung sie haben und dass diese Wirkung darin besteht, die bestehende Ordnung zu destabilisieren und einen Weg zur Revolution zu ebnen. Und weil Mythen auf Emotionen basieren und nicht auf der Wissenschaft, kann man sie nicht mit rationalen Argumenten bekämpfen, was sie resilient macht gegen die Argumente der intellektuellen Eliten. Solch ein Mythos war für Sorel daher vor allem der von einer vermeintlichen Verschwörung der plutokratischen Eliten und vor allem eines von Sorel erhofften Generalstreiks, der, einmal erfolgt, die Revolution ermöglichen würde.
Und die Revolution würde eine blutige sein, denn Sorel begann auch die Gewalt als schöpferische und mobilisierende Leidenschaft in seinen Werken zu glorifizieren. Daraus entwickelte er dann seine Idealisierung des tätigen, anti-intellektuellen Heroismus. Der marxistische Klassenkampf wurde bei Sorel langsam zu dem Mythos von der Mission der „hellenischen Sturmtruppen“ des Proletariats in einem gewaltigen Krieg gegen die angebliche dekadente Plutokratie von Adel und Bürgertum, um die europäischen Nationen wieder durch die klärende Kraft der Gewalt zu einer neuen, glorreichen Gesellschaft zu führen.
Und 1909 brach Sorel dann mit dem Sozialismus. Er blieb weiterhin ein Syndikalist, der das Ziel einer egalitären Gesellschaft verfolgte, aber den Nationalismus und Antisemitismus als notwendige Mythen ansah, um das Proletariat zu mobilisieren und zu militarisieren. Mögliche „Kollateralschäden“ wie antisemitische Pogrome waren in diesem Denken nur noch notwendige Bauernopfer auf dem Altar der Revolution. Sorel driftete zunehmend in das Lager der revolutionären Rechten und verwarf bald auch seine Idee von einem Generalstreik, da solch ein Streik die Nation schwächen würde. Letztendlich wandte er sich auch gänzlich von der Aufklärung und der Vorstellung des vernünftigen Menschen ab, die die Basis für die beiden Ideologien der Moderne, Liberalismus und Sozialismus, darstellt, und vertrat zunehmend nationalistische und traditionalistische Positionen.
Als die russische Revolution losbrach, bewunderte Sorel Lenin für dessen kompromisslose Gewaltbereitschaft und widmete ihm seine letzten Texte. Aber genauso bewunderte er Mussolini, der wiederum selbst auf die Frage nach seinem größten Lehrmeister einmal sagte: „Ich verdanke das meiste George Sorel. Dieser Meister des Syndikalismus trug mit seinen rohen Theorien über revolutionäre Taktiken am meisten zu der Disziplin, Energie und Macht der faschistischen Kohorten bei.“
Und auch die Nazis griffen Sorels Beobachtung und Erkenntnis auf, dass antisemitische Verschwörungstheorien, sich viel besser dazu eignen, die Massen zu mobilisieren, als irgendein abstraktes Narrativ eines dialektischen Klassenkampfes. Und vor allem viel mehr, als die moralisch fragwürdigen ökonomischen Erklärungen darüber, wie profitabel es für die deutsche Industrie und die Parteispitze wäre, die Nachbarländer zu plündern und Millionen von Menschen in Konzentrationslagern als billige Sklaven schuften zu lassen und sie danach zu ermorden. Die Faschisten und Nazis ignorierten natürlich die egalitären und eher linken Endziele von Sorel, aber ab da wurde die Instrumentalisierung von Mythen ein Kern der Strategien vor allem des antikapitalistischen Spektrums des Rechtsextremismus.
Und nichts anderes, als solche mobilisierenden Mythen sind die Verschwörungstheorien und Memes, die die extreme Rechte heute streut. Und weil sie sich – ganz nach Sorel – nicht um die Wahrheit der Inhalte kümmert, sondern nur um die Fähigkeit, die Emotionen zu mobilisieren, ist sie so erfolgreich damit. Das ist es, was Mythen und Verschwörungstheorien so stark macht. Die Komplexität der Wirklichkeit wird so vereinfacht, überzeichnet und verbogen, dass sie eine einfach verständliche Form annimmt, die intellektuell selbst für einen Ungebildeten verständlich ist und stark die Emotionen und die Symbolkraft unbewusster Archetypen und Stereotypen aktiviert.
Man könnte auch sagen, dass die Komplexität der Welt auf ein klares Feindbild und ein Meme reduziert wird. Und Memes sind nichts anderes als ideologische Viren, die sich schnell – insbesondere über das Internet – durch eine Kultur ausbreiten können. Diese Fähigkeit, abstrakte und intellektuell durchdachte Argumente und Theorien zugunsten viral gehender Verschwörungstheorien aufzugeben, die Quantität der Qualität zu bevorzugen, ist der Grund, warum die Rechte in den vergangenen Jahren vor allem im digitalen Raum am Vormarsch ist und fröhlich skandiert: “The left can´t meme!“
Während die Liberalen und Linken sich abmühen und über komplexe und für Außenstehende unverständliche Theorien über Preismechanismen und Intersektion schwaffeln, macht sich der rechtsextreme Demagoge keine Mühe, den Verstand seiner Gefolgschaft zu überanstrengen und riskiert es nicht in differenzierten Debatten die zweifelhafte Moralität seiner Ziele zu offenbaren. Stattdessen bedienen sich rechtsextreme Demagogen bis heute lieber des sorelianischen Mythos. Am besten lässt sich dies an der liebsten Verschwörungstheorie der Identitären Bewegung und vieler anderer rechtsextremer Bewegungen unserer Gegenwart veranschaulichen: Der Große Austausch.
Rechtsextreme Ethnopluralisten, wie man sie in der Identitären Bewegung findet, fürchten, dass durch sinkende Geburtenraten der weißen Europäer und die hohen Geburtenraten von Migranten langfristig Weiße zu einer ethnischen Minderheit in Europa werden könnten und lehnen sowieso Einwanderung Nicht-Weißer aus vor allem rassistischen Gründen ab.
Es ist aber schwer, Menschen die Problematik von so etwas komplexen und abstrakten wie dem demographischen Wandel und ökonomischen Veränderungen zu vermitteln, und noch schwerer, sie dagegen zu mobilisieren. Gegen was soll man auch mobil machen? Dagegen, dass die meisten Deutschen sich zunehmend entscheiden, weniger Kinder zu kriegen? Dagegen, dass die Wirtschaft Fachkräfte braucht, von denen es nun mal unter den „Biodeutschen“ zu wenig gibt? Dagegen, dass Syrer nicht in ihren kaputtgebombten Ruinen bleiben wollen, sondern sich wie jeder Mensch in so einer Situation ein neues Leben an einem besseren Ort aufbauen wollen? Es ist lächerlich und sinnlos, gegen so einen abstrakten ökonomischen und kulturellen Wandel zu protestieren. Moralisch ist es auch nicht gesellschaftlich anschlussfähig, gegen den Lebenserhaltungstrieb von vor Kriegen fliehenden Menschen zu protestieren.
Um den demographischen Wandel und die Migration umzukehren, würden Proteste auch nicht reichen, man bräuchte ein totalitäres Regime, welches die Menschen zwingt, ihr Verhalten und Denken gegen ihren Willen zu ändern. Ein totalitäres Regime, welches Ausländer deportiert und den Einheimischen Verhütungsmittel verbietet und ihnen Anreize bietet wieder mehr Kinder zu zeugen, durch die auch ohne Migration ein steter Strom an zahlreichen Arbeitskräften zur Stabilisierung der Wirtschaft und der Sozialsysteme sichergestellt werden kann. Aber um so ein Regime zu errichten, müssten die Rechtsextremen an die Macht kommen, und dazu müssten sie die Massen zuerst mobilisieren …
Aber da das aus den oben genannten Gründen schwer ist, bemüht man sich dafür stattdessen eines Mythos’, einer Verschwörungstheorie, ganz nach Sorels Vorbild, namens Großer Austausch. Laut dieser Verschwörungstheorie wollen linksliberale Eliten die weiße Bevölkerung Europas langfristig ausrotten und durch Afrikaner und Araber austauschen. Je nach der Version der Verschwörungstheorie liegt das entweder daran, dass die angeblich so allmächtigen Juden angeblich die deutsche Rasse auslöschen wollen, oder die Schwarzen angeblich aufgrund einer geringeren Intelligenz bessere Konsumenten und Arbeitskräfte für die Kapitalsten darstellen oder öfters links wählen … Es ist auch egal, warum laut der Theorie des Großen Austausches die Eliten die Weißen loswerden wollen. Sie ist sowieso Schwachsinn. Was zählt, ist, dass diese Theorie in ihrer Einfachheit und ihrem klaren Feindbild jeder Idiot begreifen kann und, dass wenn man sie glaubt, sie einen sehr wütend macht und einen dazu mobilisiert, leidenschaftlich und immun gegen rationale Argumente politisch tätig zu werden. Wie Hanau, Halle und Christchurch zeigen, macht sie auch einige Personen wütend genug, um zu einem Gewehr zu greifen und um sich zu schießen und zu morden. Langfristig wird die Gesellschaft so Stück für Stück polarisiert und in die Richtung des Bürgerkriegs und der blutigen Revolution getrieben, die – so das strategische Kalkül – am Ende die Machtergreifung und dann das Regime ermöglichen.
Diese Enge Verknüpfung zwischen Verschwörungstheorien und der Legitimation von Gewalt, um das vermeintlich drohende Unheil abzuwenden, ist bereits in Sorels Konzeption des Mythos angelegt und macht die verschwörungstheoretische Rechtsextreme auch heute noch so gefährlich. Selbst, wenn nicht alle Verbreiter dieser Theorien zur Gewalt aufrufen, so kann ein überzeugter Gläubiger dieser Theorien kaum anders als zu dem Schluss kommen, dass der Griff zur Waffe langfristig notwendig wird, um das von ihnen prophezeite Unheil abzuwenden.
Doch wie ich zu Beginn dieses Artikels schrieb: Rechtsextreme sind nicht die einzigen, die die alte Macht des sorelianischen Mythos zur politischen Mobilisierung verwenden. Ihre Verschwörungstheorien sind nur oft die plumpsten und damit offensichtlichsten. Auch die Sowjetunion lernte von Sorel und erfand und streute Verschwörungstheorien wie die, HIV wäre eine amerikanische Biowaffe (Operation Infektion), im Versuch in den westlichen Gesellschaften Polarisierung und Verunsicherung zu schaffen. Und in ihrer Tradition tun das Putins Russland und Xis China bis heute, worauf ich allerdings in einem früheren Artikel – Das Trümmerfeld des Informationskriegs – bereits eingegangen bin. Und selbst liberale und libertäre Denker lassen sich immer wieder von Verschwörungstheorien infizieren und instrumentalisieren, wie zum Beispiel vor allem in den vergangenen Jahren von dem rechten Mythos des „Kulturmarxismus“, laut dem die intellektuellen Strömungen des Neomarxismus, der Frankfurter Schule und der Postmoderne alle Teil einer kulturmarxistischen Weltverschwörung wären.
Da Verschwörungstheorien die Vernunft und den Diskurs aushebeln, untergraben sie die Grundlagen der liberalen Demokratie und stellen sie vor ein Dilemma und eine schwierige Herausforderung: Wirksame Verteidigungswerkzeuge wie Zensur und eigene Mythen sind nicht vereinbar mit liberalen Werten und Rechtsstaatprinzipien, weshalb es gilt, wachsam zu bleiben und die Mythen zu entzaubern, bevor sie sich zu weit ausbreiten und in den Köpfen festsetzen können.