In einem gewissen Sinne ist der Mensch immer frei, wenn man von Willensfreiheit ausgeht – oder immer unfrei, wenn man davon ausgeht, dass es keine Willensfreiheit gibt. Aber die Idee oder das Konzept der Freiheit, welche(s) wir meinen, wenn wir Freiheit in so hohen Tönen preisen, ist anderer Natur. Diese Freiheit bezieht sich auf den Menschen in Relation zu anderen Menschen und ist daher ein soziales Phänomen. Diese Freiheit beruht uneingeschränkt auf Zivilisation und Gesellschaft. Es gibt sie nicht in einem Leben in der Isolation. Aber selbst in Kleingruppen, in denen der Einzelne sich bedingungslos den so dringenden Bedürfnissen der Gruppe unterordnen muss, um das Überleben zu sichern, ist Freiheit kaum existent. Denn zwischenmenschliche Freiheit kann es ja eben nicht geben, wenn das gemeinsame (Über-)Leben gerade davon abhängt, dass eine klare Hierarchie herrscht und ein Wille für alle bindend ist, um eine Kohärenz im Handeln zu ermöglichen, ohne die die kleine Gruppe kaum Überlebenschancen hätte. Freiheit ist also ein Artefakt der arbeitsteiligen, Großen Gesellschaft und damit der Zivilisation, in der keine Einigung über die Ziele jedes einzelnen notwendig ist – im Gegensatz zu Kleingruppen. Und als solche ist Freiheit gebunden an diese Zivilisation: Freiheit, die mehr ist als bloße Willensfreiheit, kann es nur in einer freien Gesellschaft geben. Es kann sie nur dann geben, wenn die Menschen unterschiedliche Ziele verfolgen können, aber dennoch ein geregeltes Zusammenleben erreichen.
Die Freiheit des Einzelnen kann dann aber auch nicht grenzenlos sein. Ihre Grenze wird bestimmt von der Notwendigkeit, die Gesellschaft bzw. Zivilisation zu bewahren. Denn diese Freiheit ergibt sich ja gerade nur dann, wenn ein geordnetes Zusammenleben vieler auf der Basis geteilter Wertvorstellungen und allumfassender Koordination und Kooperation vorherrscht. (Und dies obwohl die Menschen nicht die gleichen Ziele verfolgen, wie es in einer Kleingruppe der Fall ist und natürlich auch, wenn ein Einzelner in Isolation lebt.) Was diese Freiheit überhaupt ermöglicht, sind also einerseits Einschränkungen oder Grenzen. Andererseits benötigt eine Gesellschaft aber auch die Würdigung der sie auszeichnenden oder eher konstituierenden Werte und Traditionen durch jeden. Freiheit in einer freien Gesellschaft kann also weder grenzenlos sein noch bedeuten, dass jeder tun darf, was ihm beliebt. Aber es wäre doch falsch, diese Freiheit daher als eingeschränkt oder gar unvollkommen zu betrachten. Freiheit ist in ihrem Wesen eine Freiheit in Gesellschaft und kann daher nicht Negation eben dieser Gesellschaft bzw. der Werte und Traditionen, die dieser zugrunde liegen, sein.
Doch was genau ist nun Freiheit? Ist es jener Zustand, in dem der Zwang, den einige auf andere ausüben, so niedrig wie möglich ist?(1) Dies ist eine formale Definition der Freiheit, die sich auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Individuen bezieht und manchmal motiviert wird mit dem Verweis, dass sie die größtmögliche Nutzung von Wissen ermöglicht. Doch Freiheit muss, wie oben angedeutet wurde, über dieses Verständnis hinausgehen. Freiheit ist zwar, dass jede ihre Entscheidungen in diesem System des minimalen Zwanges frei vom Willen anderer treffen darf, aber nicht, dass sie in ihren Entscheidungen dabei willkürlich verfahren darf.(2) Freiheit bedeutet dann nicht, sagen zu dürfen, was einem beliebt, sondern frei zu sein „to speak truth as [one] knows it.“(3) Freiheit gibt keine Lizenz, zu tun, was man will. Denn eine Gesellschaft kann nicht nihilistisch sein, sondern baut auf den geteilten Wertvorstellungen und Traditionen wie Ehrlichkeit, Wahrheit, Selbstverbesserung oder Gerechtigkeit auf, die die Individuen in ihren Handlungen bekräftigen müssen – genauso wie sie auf einer geregelten Zwangsausübung basiert. Freiheit ist also ein Zustand, in dem jeder einzelne geregeltem und so wenig Zwang wie notwendig ausgesetzt ist, wobei er seine Handlungen an den die Gesellschaft konstituierenden Werte, wie z.B. der Wahrheit, ausrichten muss. Freiheit ist, wie oben bereits angeführt, dann nicht grenzenlos, sondern eingerahmt in ein System des Zwangs und in die Pflicht eines jeden, die Werte und Traditionen seiner Gesellschaft zu leben.
Dass Freiheit und Zwang zwei Seiten einer Medaille sind, ist häufig betont worden, aber dass Freiheit auch verbunden ist mit der Bejahung bestimmter Werte mag vielleicht suspekt erscheinen. Betrachtet man jedoch die Entwicklung der westlichen Zivilisation waren es ja nicht Institutionen allein, die das ‚age of betterment‘ eingeläutet haben. Es war auch eine kulturelle Errungenschaft, McCloskeys ‚Bourgeois dignity and liberty‘(4), dass seit dem 18. Jahrhundert einige Länder eine so großartige Entwicklung nehmen konnten und unvorstellbarer Reichtum – sowohl materiell als auch in Bezug auf die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen – entstanden ist.
1. Vergleiche Friedrich August von Hayek, “Freedom and Coercion – Some Comments on a Critique by Mr. Ronald Hamoway” in Studies in Philosophy, Politics and Economics, London: Routledge und Kegan Paul, 1967, S. 348.
2. Ob Freiheit vielleicht jener Zustand ist, den Hayek beschreibt, und darüber hinausgehend diese Freiheit verpflichtet, sich an gewissen Werten auszurichten, ist eine interessante Frage. Eine Klärung geht über dieses Essay aber hinaus. Wir wollen daher diesbezüglich keine Unterscheidung vornehmen.
3. Michael Polanyi, “The Republic of Science: Its Political and Economic Theory” in Knowing and Being: Essays by Michael Polanyi, ed. by Marjorie Grene, Chicago: The University of Chicago Press, 1969, S. 70. Vergleiche auch die Ausführungen über den Verfall des Liberalismus als Konsequenz der Abkehr vom Glauben an objektive Wahrheiten und Werte bzw. der ‘Revolution des Nihilismus’ von John H. Hallowell, The Decline of Liberalism as an Ideology, London: Kegan Paul, Trench, Trubner & Co., 1946.
4. Vergleiche Deirdre McCloskeys zahlreiche Publikationen, insbesondere Bourgeois Equality: How Ideas, Not Capital or Institutions, Enriched the World, Chicago: The University of Chicago Press, 2016.