Die Entnationalisierung des Staates – Warum Wettbewerb auch für öffentliche Institutionen notwendig ist

von Rick Wendler

Das alte Staatsverständnis

Das klassische Staatsverständnis verlangt neben dem Staatsvolk und der Staatsgewalt ein klar definiertes Staatsgebiet. Dieses Verständnis entstammt dem 19. Jahrhundert mit den damals aufkommenden Nationalstaaten. Der territoriale Fokus scheint aber den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr angemessen zu sein. Denn während ein obrigkeitlich-fokussierter und territorial definierter Staat für die Lebenswirklichkeit der Bürger im 19. Jahrhundert angemessen gewesen sein mag, ist er es für die Menschen heutzutage sicher nicht mehr. Während im 19. Jahrhundert der absolute Großteil der Menschen ihr gesamtes Leben an einem Ort verbrachten – in der Regel der, in dem sie geboren wurden – und die gleichen Lebensumstände teilten, ist das heutzutage kaum noch der Fall. 

Nicht nur, dass die Menschen viel mobiler geworden sind und häufig ihren Wohnort ändern – oft auch über Landes-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg. Die Vielfalt der ganz unterschiedlichen Lebensentwürfe hat auch drastisch zugenommen. Selbst Menschen, die in der gleichen Stadt wohnen, bewegen sich in ihrem Alltag oft in ganz unterschiedlichen Welten. Der Waldorf-Vater, der für seine Kinder möglichst ganzheitliche Konzepte mit Kreativität und Handwerklichkeit wünscht, wohnt in der gleichen Straße wie die Jetset-Managerin, die ihre Kinder schon in den zweisprachigen Kindergarten schickt. Homöopathie-Freunde und Impfgegner in der Hippie-Kommune, Veganer, die Gemüse vom regionalen Bauernmarkt kaufen und die klassische Familie aus der Arbeiterschicht sitzen alle zusammen morgens in der U-Bahn. Für sie alle bietet der Staat bei öffentlichen Leistungen wie Schulen, Krankenversicherungen und Altervorsorge oft nur Standardlösungen von der Stange, mit denen sich alle gleichermaßen abfinden müssen – die aber wohl niemanden wirklich zufrieden stellen. Denn jemand, der beispielsweise im Laufe seines Lebens in verschiedene nationale Sozialsysteme einzahlen muss, kann später auf die einmal erworbenen Ansprüche nicht ohne Weiteres zugreifen. Dynamik und Vielseitigkeit des modernen Lebens haben das starre Staatsverständnis, das von einer territorialen Ausschließlichkeit ausgeht, also lange überholt und schon weit hinter sich gelassen.

Ein neues Staatsverständnis

Wenn der Staat mit den Bedürfnissen der Menschen im 21. Jahrhundert noch mithalten möchte, ist eine grundsätzlich neue Perspektive geboten. Es muss darum gehen, die Vielfalt und Dynamik der Bedürfnisse der Bürger Rechnung zu tragen.  Einen möglichen Ansatz dafür bietet das Konzept der FOCJ von Bruno Frey und Reiner Eichenberger. FOCJ steht für Functional Overlapping and Competing Jurisdictions, also für funktional definierte, sich teilweise überlappende und damit im Wettbewerb zueinander stehende Verwaltungsträger. Die Idee dahinter ist, dass öffentliche Institutionen nicht zuerst territorial, sondern funktional definiert werden sollten, also über die Aufgabe, die sie übernehmen und nicht über das Gebiet, das sie abdecken. Wesentlich für das Gelingen eines solchen Systems von FOCJ ist ihre finanzielle Autonomie – dass die einzelnen Verwaltungsträger also ihre eigenen Gebühren und Abgaben erheben und sich nur durch diese finanzieren. Anstatt also pauschal und ohne Auswahlmöglichkeit alle Steuern und Abgaben an die Gemeinde abzuführen, zahl der Bürger nur Beiträge für jene öffentlichen Leistungen die er in Anspruch nimmt und direkt an den Anbieter. Wenn es also auf einem Territorium mehrere Anbieter öffentlicher Leistungen gibt, die um die Beiträge der Bürger konkurrieren und auf diese angewiesen sind, entsteht ein Druck, auf möglichst effiziente Weise möglichst zufriedenstellende Lösungen zu schaffen. Das ist unproblematisch anwendbar für alle Aspekte des Leistungsstaates, wie beispielsweise Schul-FOCJ, Müllabfuhr-FOCJ, etc.; aber auch durchaus denkbar für andere Bereiche des Gewaltmonopols wie Justiz oder Währung.

Die Folgen des Wettbewerbs

Denn es gilt: was im privaten Bereich funktioniert, funktioniert auch im öffentlichen. Ein Wettbewerb zwischen Verwaltungsträgern hätte die gleichen vorteilhaften Folgen, wie er es zwischen Wirtschaftsakteuren hat. Zum Einen dient der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. Die um die Gunst der Bürger konkurrierenden Anbieter öffentlicher Leistungen haben einen Anreiz, sowohl neue Arten öffentlicher Leistungen anzubieten, als auch neue Organisationsformen auszuprobieren, um die Effizienz zu steigern. Und die Bürger entscheiden unmittelbar, welche angebotenen Lösungen tatsächlich am besten ihren Präferenzen entsprechen. Zum Anderen fungiert auch hier der Wettbewerb als Entmachtungsverfahren, in dem er eine Vielzahl von kleingliedrigen Entscheidungszentren erschaft und damit eine übermäßige Machtkonzentration verhindert. Im Prinzip sind FOCJ nichts anderes als ein gesteigerter, radikal dezentralisierter Föderalismus.

Es ergäbe sich eine polyzentrische, funktionale Ordnung an der Stelle heutiger monozentrischer, territorial definierter Nationalstaaten.

Die Entscheidungen der Bürger stünden unmittelbar im Mittelpunkt des staatlichen Handelns und böten auch einen sehr viel direkteren Feedback-Mechanismus für die öffentlichen Akteure, im Gegensatz zu der eher umständlichen und sehr indirekten Einflussnahme durch Wahlen alle paar Jahre, die dem Bürger heutzutage bleibt. Aber selbst bei Wahlen besteht nur die Möglichkeit, ein politisches Gesamtpaket zu wählen: wen soll man wählen, wenn einem die Schulpolitik der einen Partei zusagt, aber das Rentenprogramm einer anderen, aber man auch viel Wert auf die Haushaltsdisziplin einer dritten Partei legt? Mit FOCJ könnte man für jedes dieser Anliegen einen separaten Anbieter wählen, ohne unnötige Kompromisse eingehen zu müssen.

Europas Potenzial

Das Ganze mag utopisch anmuten – muss es aber nicht. Denn tatsächlich böte die EU einen optimalen Ordnungsrahmen für die Einführung von FOCJ, die mit nur wenigen Anpassungen der Verträge möglich wäre. Ähnlich der bisher sehr erfolgreichen vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes bräuchte es lediglich eine fünfte – politische – Grundfreiheit: die kommunale Autonomie, neue Anbieter öffentlicher Leistungen zu gründen oder sich zu ihnen unabhängig von Staatsgrenzen zusammenschließen zu können.

Eine derart verstandene funktionale Entnationalisierung des Staates bedeutet nicht, dass die bisherigen Nationalstaaten in einem neuen europäischen Nationalstaat aufgelöst werden sollen. Das scheint bisher das angestrebte Ziel zu sein mit dem gegenwärtigen Trend der zunehmenden Zentralisierung in Brüssel unter dem Euphemismus der “Harmonisierung” und dem ausgegebenen Ziel der “ever closer Union”. Was im Gegenteil erforderlich ist, ist eine gänzliche Abkehr vom territorialen Staatsverständnis, hin zu einem funktionalen. Anstatt der Frage, über welches Gebiet ein Staat seine obrigkeitliche Macht ausübt, sollte im Mittelpunkt stehen, wie öffentliche Aufgaben möglichst effizient und zum größten Nutzen der Bürger erfüllt werden können. Dafür scheint ein Wettbewerb zwischen öffentlichen Institutionen unerlässlich.

Fazit

Der Nationalstaat ist gleichzeitig zu groß und zu klein: er ist zu groß, um eine für alle Lebensentwürfe und Bedürfnisse befriedigende Lösung zu erlauben und an anderen Stellen noch zu klein, um mit Hilfe von Skaleneffekten effiziente Lösungen zu ermöglichen. Das liegt auch daran, dass es schlicht nicht die eine ideale Größe gibt. Die Antwort besteht also darin, den Staat nicht mehr vom Hoheitsgebiet her zu denken, über das er das Gewaltmonopol ausübt, sondern von den Funktionen her, die er für die Bürger erfüllt. Diese Funktionen kann der Staat wesentlich besser erfüllen, wenn er die Form eines Systems autonomer Institutionen und Verwaltungsträger einnimmt, die untereinander im Wettbewerb um die Gunst der beitragzahlenden Bürger stehen. Damit würden sich Breite und Tiefe der Staatsaktivität maßgeblich an den Bedürfnissen und Präferenzen der Bürger ausrichten. Der Bürger wäre mit FOCJ auch im Leistungsstaat weniger passiver Untertan und mehr echter Souverän.

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