Leben kostet Leben. Das ist für viele eine schmerzhafte Erkenntnis. Die Corona-Krise wirft Fragen auf, über die wir nachdenken müssen. So führt sie uns vor Augen, dass in einer globalisierten Welt sich das Elend nicht einfach und schnell beenden lässt. Die gute, reine Intention kann Hunger, Armut und Leid nicht verhindern. Doch drängt uns das schlechte Gewissen manchmal zu einem Aktionismus, der die volle Bandbreite des Problems nicht erfasst. Dagegen kann uns ein alter Weggefährter helfen: der Kapitalismus.
Sabhar, Savar und Dhaka sind nur einige Orte, an denen Menschen für unser täglich Kleidung in Textilfabriken von Primark & Co. ihr Leben ließen. Besonders die Bilder des Einsturzes des Rana Plazas in Sabhar im Jahr 2013 haben sich in unser Gedächtnis gebrannt. Die 1135 Toten sind für den ostasiatischen Staat Bangladesh das größte Industrieunglück aller Zeiten.
Solche Ereignisse führen zu einem Umdenken in uns. Wir beginnen zu überlegen, wo wir unsere Kleidung kaufen. Einige versuchen, Kleidung möglichst nicht aus Ländern zu tragen, in denen Arbeiter ein scheinbar sklavenähnliches Leben fristen. Wir kaufen regional: Kleidung aus Europa, am besten aus Deutschland. Den Preisaufschlag nehmen wir dafür in Kauf. Es ist der Preis für ein gutes Gewissen. Wir tragen T-Shirts, die moralisch rein produziert wurden. Dazu ein geringer ökologischer Fußabdruck, schließlich muss Kleidung aus Europa für uns nicht durch die halbe Welt verschifft werden.
Auf der anderen Seite der Welt, in Bangladesh, muss für uns niemand mehr schuften. Doch was passiert mit den Arbeitern dortzulande? Schließlich ist die Arbeit in der Textilfabrik ihre Existenzgrundlage. Die Antwort ist makaber: Sie finden keine Jobs – oder versuchen sich im Dienstleistungssektor: zum Beispiel in der Prostitution. Auch Kinder sind davor nicht gewahrt. Schließlich ist Bangladesh eines der wenigen Ländern in Südostasien mit legaler Sexarbeit. Unser Verzicht auf die „schmutzige“ Kleidung aus Bangladesh ist damit kein Grund für ein gutes Gewissen.
Das Beispiel, aufgrund moralischer Gründe auf etwas zu verzichten, ist nur ein Sinnbild manchen Aktionismus hierzulande. Wir achten auf die reinen Tugenden unserer Handlungen und vergessen dabei die tatsächlichen Konsequenzen. Dagegen hilft nur, die volle Bandbreite des Problems zu erkennen und genau abzuwägen, welche Lösung welche Konsequenzen hat und dementsprechend zu wählen. Doch wie ist den Menschen in Bangladesh nachhaltig zu helfen? Wie können wir Unglücke dieser Art in der Zukunft verhindern?
Schauen wir uns die Diskussion um das Unglück in Rana Plaza genauer an, ist schnell ein Schuldiger gefunden: der Kapitalismus. Er ist es, der die Modemarken unter Wettbewerbsdruck in einen massiven Preiskampf drängt. Geiz ist geil, schließlich möchten die Konsumenten gerne Kleidung zu einem immer günstigeren Preis. Die profitgierigen Unternehmen finden dafür die Lösung, ihre Arbeiter in Südostasien auszubeuten und auch die Gefährdung der Leben dieser in Kauf zu nehmen, nur um günstige Preise zu garantieren.
Die Kehrseite der Textilproduktion dortzulande ist, dass ohne Kapitalisten aus dem Westen die Arbeiter noch schlechter dran wären. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich in den letzten Jahren in Bangladesh verfünffacht. Zudem konnten in demselben Zeitraum 20 Millionen Menschen der extrem Armut entfliehen, was einer Halbierung der extremen Armut entspricht. Das bedeutet, dass Menschen dem Hungertod entkommen. Ohne den Kapitalismus und seinen profitorientierten Unternehmen wäre eine solche Entwicklung nicht möglich gewesen.
Dass vereinzelt Marken unter menschenunwürdigen Bedingungen produzieren, ist ein Versagen der staatlichen Institutionen. Beim Einsturz des Rana Plaza führten fehlende Kontrollen und Korruption dazu, dass das Gebäude um zwei Stockwerke mehr als vorgesehen erweitert werden konnte. Unter dem Druck dieser zusätzlichen Last stürzte das Gebäude schlussendlich ein. Sohel Rana, Besitzer des Gebäude und selbst führender Politiker, kannte wohl die richtigen Leute in der Verwaltung.
Das Unglück in Rana Plaza war damit Marktversagen und Staatsversagen. Der Wettbewerbsdruck drängte die Textilhersteller dazu, möglichst billig zu produzieren – und dabei nicht auf eine sichere Produktionsweise zu achten. Dieses Problem sollte dann von den Institutionen behoben werden, was aber nicht geschah. Als Konsequenz initiierte in Deutschland der Bund in Kooperation mit Textilherstellern wie H&M, KiK, C&A und auch der Einzelhandelskette Aldi das „Bündnis für nachhaltige Textilien“ mit dem Ziel, in Zukunft die Moral bei der Textilproduktion durch bessere Institutionen zu gewährleisten.
In diesem Beispiel sehen wir, dass funktionierende Märkte – das heißt Märkte mit intakten Institutionen – Hunger, Armut und Leid effektiv bekämpfen können. Das ist nur möglich, wenn wir unser gutes Gewissen hinterfragen und den Problemen der Welt erwachsen in die Augen schauen.