Der Medianwähler und die fiktive Mitte

von Juan de Dios Estevez

Es ist wieder soweit! In einem Jahr findet die Bundestagswahl statt. Politiker bereiten sich auf den Wahlkampf vor, alte Hasen versuchen ihre gut bezahlten Jobs zu behalten, andere versuchen in den Bundestag reinzukommen. Egal ob von Emporkömmlingen oder Platzhirschen, wir werden das nächste Jahr häufig Sätze wie: „Die Mitte entlasten! Die Mitte stärken! Wir sind die Mitte!“ hören (müssen). Bei dem Pitch der Jungen Union diskutierten die drei CDU-Kandidaten gar, wie die Christdemokratie eine Partei der Mitte bleiben kann. Die FDP bietet der Mitte ein Angebot aus der Mitte, und die Grünen möchten bald die Mitte erobern. Scheinbar ist diese „Mitte” ein sehr wertvolles Asset. Aber – unter uns – wer oder was ist diese Mitte? Oder die Mitte von wem – oder von was?

Nun, die Mitte gibt es ebenso wenig wie es den „Markt” gibt. Beides sind abstrakte Ideen, die so benutzt werden, als wären sie eigenständige Akteure in unseren politischen und marktwirtschaftlichen Prozessen – *Spoiler Alert* – sind sie nicht. „Der Markt hat versagt“ oder „der Markt wird´s regeln“ sind ausschließlich falsche Behauptungen. Was wir als den Markt bezeichnen, ist nicht anders als ein Prozess, d.h. ein marktwirtschaftliches Verfahren, das nur durch menschliches Handeln zustande kommt. Der Mensch handelt, und gerade durch dieses Handeln entstehen Interaktionen mit seinen Mitmenschen; der Markt ist letztendlich kein Akteur oder Ort, den man besuchen kann. Wir sollten nicht von dem Markt sprechen, sondern von einem marktwirtschaftlichen Prozess. Ähnliches gilt für die “Gesellschaft”. Die Gesellschaft als Ganzes existiert auch nicht, sondern sie besteht aus eigenständigen Individuen, die miteinander interagieren. Schon Margaret Thatcher erkannte dies und erklärte 1987 in einem Interview:

„They are casting their problems at society. And, you know, there’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first. It is our duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours.“

Thatcher war aber keine Objektivistin oder „Ultra-Individualistin“. Die Gesellschaft existiert ja, aber sie ist eben wie der „Markt“ keine feste homogene Struktur, sie ist kein Akteur mit einem Willen. Der britische Philosoph Roger Scruton formulierte diese Erkenntnis Thatchers folgendermaßen:

„[Thatcher] meinte durchaus, dass es so etwas wie die Gesellschaft gebe, aber diese sei nicht identisch mit dem Staat. Die Gesellschaft besteht aus Menschen, die sich frei zusammentun und Gemeinschaften mit gemeinsamen Interessen hervorbringen, die die Sozialisten nicht das Recht haben zu kontrollieren und die Obrigkeit nicht das Recht hat zu verbieten.“

Die Gesellschaft besteht also aus Individuen, die sich freiwillig zusammenschließen, ist aber nicht selbst ein Akteur. Jedes Individuum ist einzigartig; wie es spricht, wie es denkt, welche Musik es hört, bis hin zum Lieblingsdönerladen. Nichtdestotrotz versammeln sich Individuen freiwillig durch gemeinsame Vorlieben, Traditionen und Identitäten. Lokale Vereine – von Lesekreisen, bis hin zu kirchlichen Gemeinden und Verbindungen – sind einige Beispiele davon. Jedoch bleibt das Individuum immer der Hauptakteur dieser Strukturen. Die Vorlieben des Individuums sind nicht gleichmäßig in der Gesellschaft verteilt. Wir können einen Kuchen teilen, wir können die Hälfte der Kekse essen, wir können uns in der Mitte der Straße treffen oder wir können in Berlin-Mitte ein Bier trinken gehen. Die Gesellschaft, im Gegensatz dazu, hat keine Mitte. Individuen sind nicht gleichmäßig in irgendwelche Art und Weise verteilt. 

Wenn Politiker eine Mitte anvisieren möchten, können sie sich maximal am Medianwähler orientieren. Das Medianwählermodell, eher bekannt als das Hotelling-Downs-Modell (in Anlehnung an die Ökonomen Anthony Downs und Harold Hotelling), kann so interpretiert werden, dass Politiker dadurch die Stimmenmaximierung über ihre persönlichen Prinzipien stellen. Dabei orientieren sie sich zum Beispiel nicht unbedingt an der Effektivität eines Gesetzes, sondern lediglich an der Beliebtheit dessen oder an der Position, die ihnen am meisten Stimmen sichern kann. Weil sie sich aber an den „durchschnittlichen“ Wähler orientieren, führt diese Strategie jedoch oft zu unerwünschten Ergebnissen.

Eigene Darstellung

Um dieses Problem verständlicher zu machen, werfen wir einen Blick auf die professionelle Paint-Abbildung. Hier können wir unterschiedliche Gruppen und Verteilungen von Wählern sehen. Einige wünschen sich, dass der Staat viel Geld für X ausgibt, andere wünschen sich das genaue Gegenteil.

In dem Model gehen wir von einem Zwei-Parteien-System aus. Damit Politiker wiedergewählt werden, müssen diese mindestens 50 Prozent der Stimme für sich holen. Bei Szenario I können wir sehen, dass Partei B ideologisch niedrige Ausgaben (low) für X befürwortet. Partei A vertritt eine fast ähnliche Position und würde nur ein bisschen mehr Geld akzeptieren. Beide Positionen sind eigentlich weit weg von den Vorlieben der Wähler, die eher große Ausgaben befürworten würden. Da Partei A aber näher an ihren Wünschen liegt, werden alle die gleich viel oder mehr Geld als A ausgeben würden, für A stimmen. Diese gewinnt somit die Wahl mit großer Mehrheit (rot markiert).

Wenn B die Wahl gewinnen möchte, muss sie nur eine Position weiter rechts von A vertreten (Szenario II) – so erreicht sie eine eindeutige Mehrheit (blau). Diese „Unterbietung“ wird so lange fortgesetzt (Szenario III), bis beide Parteien rund 50 Prozent der Wählerschaft für sich gewinnen können (Szenario IV). Am Ende vertreten beide Parteien zwei Positionen, die wohl sehr ähnlich sind, jedoch nicht wirklich die Wünsche der Bevölkerung vertreten. So entsteht ein politischer Kompromiss, bei dem alle außer die „Mitte” verlieren.

Gordon Tullock beschrieb dieses Phänomen bereits im Jahr 1967 und postulierte, dass Mehrheitsentscheidungen die Präferenzen des Medianwählers begünstigen, auch wenn es sich dabei um die von der Mehrheit am wenigsten gewünschten Präferenzen handelte. Soll dies das Ziel der Politik und ihrer endlosen Suche der Mitte sein? Der Versuch von Akademikern (und Politikern), alle Aspekte des menschlichen Lebens in Formeln und Modelle zu vereinfachen führte dazu, dass wir die Idee der Gesellschaft entindividualisierten – d.h. wir betrachten alle Menschen als gleich und homogen, denn nur so können wir die Gesellschaft als ein Ganzes analysieren. So kam schließlich die Idee einer Mitte auf, die Politiker nun versuchen zu erreichen. Aber diese Suche nach der Mitte ist fehlgeleitet, denn sie existiert schlicht und ergreifend nicht.

Politiker sollten eher auf ihre Grundprinzipien und Ideale achten, statt sich als Retter des Volkes auszugeben. Diese ständige Suche nach der Mitte ist schlussendlich nicht mehr als eine Ausrede, um ihren Ideale schnell zu entsorgen und einfach auswechseln zu können. Denn letztendlich wollen Parteien ihre Programme nur an der angeblichen Mitte der Gesellschaft ausrichten. Diese opportunistische Strategie ist aber  in der Natur von Parteien und Bürokraten verankert. Ihre ständige Suche nach Stimmenmaximierung ist politisch verständlich und nachvollziehbar, denn wer nicht mitmacht, verliert. Es ist daher wichtig, dass wir als Wähler kritischer und skeptischer gegenüber Parteien werden (und bleiben!). Politiker können ihre Ideale für eine Handvoll an Stimmen über Bord schmeißen – Du, im Gegensatz, solltest Deinen Idealen treu bleiben.

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2 Kommentare

Thomas Leske 29. November 2020 - 18:13

Dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden, ist zumindest im Hinblick darauf wünschenswert, dass die extremen Ränder nicht an die Regierung kommen. Kemmerichs Wahl zum Ministerpräsidenten habe ich daher befürwortet und wundere mich über Gespensterdiskussionen, wie symmetrisch das Hufeisen nun ist:
https://parabellum.minimalstaat.de/content/liberalismus-nach-th%C3%BCringen

Antworten
Juan D. Estevez 1. Dezember 2020 - 10:42

Danke für deinen Kommentar, Thomas!

Ich habe den Artikel gelesen, den Du verlinkt hast. Mein Argument ist eben, dass diese „Mitte“ nicht existiert. Für eine Mitte zu plädieren, ist mMn schlicht falsch. Schau bitte die CDU, FDP, SPD, alle drei Parteien sind eben richtungslos, diese orientieren sich nicht an ihren Idealen, sondern an einer (nicht-existierende) Mitte. Vor allem die FDP (-> https://www.derfreydenker.de/2020/09/17/liberale-politik-in-der-krise/)

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