Elefanten, die auf Corona starren

von Vincent Czyrnik

Wir kennen Elefanten aus Zoos, mitunter auch aus dem exotischen Urlaub. Mit Krieg und Moral verbinden wir sie weniger. Doch kämpften sie vor 2000 Jahren an der Seite von Menschen, oftmals als Reittiere. Der eine oder andere kennt vielleicht die Geschichte, wie Hannibal zur Zeit der punischen Kriege mit 37 Elefanten die Alpen überquerte.

Elefanten sind eigentlich sehr gehorsame Tiere. Allerdings wird ihnen nachgesagt, mitunter dem Befehl seines Reiter zu verweigern, wenn der Elefant einen wehrlosen Menschen zertrampeln sollte. Welch eine Gnade! Waren seine sechs Tonnen aber in Rage, so konnte er dagegen selten gestoppt werden: Er überrannte und zertrampelte alles, was in seinem Weg stand. Diese rasende Wut, aber auch die Barmherzigkeit der Elefanten löst in uns seit jeher Bewunderung aus.

Auch in uns steckt ein Elefant. Dieser erwacht, wenn wir darüber urteilen, ob wir etwas moralisch für richtig oder falsch befinden. Für den amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt symbolisiert dieser Elefant unsere Emotion. Zu strittigen Themen wie Vegetarismus, Kapitalismus oder die aktuellen Corona-Regeln reagieren wir zumal rein emotional. Wir finden vielleicht Vegetarismus gut, haben Zweifel am Kapitalismus oder finden die Corona-Regeln nervig. Diese Emotionen speisen sich aus unserem Bauchgefühl.

Unser Elefant hat aber auch einen Reiter. Haidt bezeichnet diesen als unseren Verstand, der sorgfältig abwägt, nachdenkt und recherchiert. Ob Vegetarismus wirklich gut ist oder ob der Verzicht auf Rindfleisch und Milchprodukte zum Wohle der Erde vielleicht reicht, sind alles Fragen, mit denen sich der Reiter und nicht der Elefant beschäftigt. Oder wir erkennen, dass Marktwirtschaft zwar zu mehr Ungleichheit führt, unterm Strich aber Armut und Umweltverschmutzung besser als Sozialismus bekämpft.

Das Problem ist, dass unsere Elefanten – angetrieben von unserem Bauchgefühl – selten durch ihre Reiter zu stoppen sind. Unser Verstand schaltet sich (zu) häufig aus, wenn wir darüber urteilen sollen, ob etwas gut oder schlecht ist. Vielmehr reichen unsere Überlegungen gerade dazu aus, unser Bauchgefühl mit Argumenten zu füttern. Wir empfinden ein Unbehagen, auf unsere in der Zukunft liegenden Urlaube zu verzichten, deswegen finden wir nur Argumente, die das Fliegen moralisch rechtfertigen. Dem Reiter fällt es schwer, seinen emotionalen Elefanten zu zügeln und wirklich neutral über solche Probleme nachzudenken.

Elefanten und Moral

Die Frage, was nun aber wirklich moralisch richtig ist, bleibt offen. Erinnern wir uns dazu zurück an den gutmütigen Elefanten, der sich weigerte, wehrlose Menschen zu zertrampeln. Wir verbinden diese Aktion mit einer hohen Moral. Der Elefant hätte die Möglichkeit, den Menschen zu zertrampeln, aber er tut es nicht. Eine unsichtbare Schranke in seinem Körper führt dazu, dass er den Menschen verschont, obwohl seine Befehle anders lauten. Moral ist daher als ein Grundbaustein zu sehen, mit dem wir unser Handeln einschränken. 

Auch wir kennen solche Situationen: Als wir Kinder waren, durchschlich uns ein mulmiges Gefühl, wenn wir das Spielzeug unseres Freundes an uns reißen wollten. Für Erwachsene ist daraus in den meisten Fällen eine feste Überzeugung geworden: Du sollst nicht stehlen! Das bedeutet, Moral beschränkt die Möglichkeit, alles an uns zu reißen. Wir verzichten auf eine moralisch falsche Handlung und verdienen stattdessen durch Arbeit selbst unser Geld, um schließlich mit diesem Tauschmittel Essen, Kleidung oder Luxus zu kaufen. In unserer Gesellschaft haben wir uns daher auf einige moralische Normen geeinigt, und wer sich an diese Werte hält, der ist in unseren Augen moralisch.

Elefanten und Corona

Unsere heutige Welt konfrontiert uns aber mit größeren Frage als Stehlen oder Nicht-Stehlen. In der aktuellen Zeit diskutieren wir über die Corona-Regeln. Dabei handelt es sich um nichts anderes als um die Frage, welche Werte wir wählen möchten, um mit der Pandemie am Besten umzugehen. Freiheit ist ein Wert, Gesundheit ein anderer.

Jonathan Haidt, von dem auch die Metapher vom Elefanten und Reiter stammt, hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum Menschen moralische Fragen wie „Was sind die richtigen Corona-Regeln?“ unterschiedlich beantworten. Haidts Antwort ist kurz: Wir Menschen haben verschiedene moralische Prioritäten. Für die einen ist die Sorge um ihre Mitmenschen von größerer Bedeutung, für die anderen die individuelle Freiheit jedes Einzelnen.

Kein Wunder also, dass diese unterschiedlichen moralischen Prioritäten zu einer hitzigen Diskussion um die richtigen Corona-Regeln führen. Der eine ruft zu Solidarität auf, der andere zu mehr Freiheit. Die einen regen sich über ihre unsolidarischen, egoistischen Mitmenschen auf, die anderen über die vermeintlich diktatorischen Zustände und den Verlust ihrer Rechte und Freiheiten.

Damit wir in unserer Gesellschaft aber friedlich über die Corona-Regeln diskutieren können, müssen wir unvoreingenommen über unsere moralischen Prioritäten sprechen. Aus einer neutralen Perspektive ist es weder gut oder schlecht, für Solidarität oder Freiheit zu sein. Beide Werte sind von Bedeutung.

Wir müssen uns stattdessen über unsere inneren Elefanten und Reiter bewusst werden, denn nur so können wir uns auch über unsere Werthaltungen unterhalten. Wir werden merken, wie sich unser innerer Elefant aus einem Bauchgefühl heraus auf die eine oder andere Seite schlägt. Manche verurteilen Kritiker der Corona-Maßnahmen als Egoisten, ohne überhaupt ihre Argumente zu kennen. Der in Rage gefangene innere Elefant verunglimpft jedes Argument, welches sein eigenes Bauchgefühl nicht bestätigt.

Nur der Reiter kann so eine Diskussions-Schlacht zum Wohle der gesamten Gesellschaft gewinnen. Indem wir vernünftig diskutieren lernen, haben wir eine Chance, eine optimale Lösung finden. Dass wir davon aktuell weit entfernt sind, beweist ein kurzer Blick in die Tageszeitungen. Wer dazu noch ab und zu einen Blick in die alternativen Medien wirft, verliert vielleicht auch noch den Glauben an die Menschheit.

Elefanten und Hoffnung

Doch geht für Scheinheilige und Moralisten in diesen Tagen ein Gespenst durch Europa – das Gespenst der Aufklärung. In den emotionsgeladen Debatten gibt es leider nur wenige, die es schaffen, ihren emotionsgeladenen Elefant zu führen. Zuletzt veröffentlichte John Ioannidis, einer der meistzitierten Wissenschaftler weltweit und Stanford-Professor für Epidemiologie und Bevölkerungsgesundheit, eine Studie darüber, inwieweit sich Lockdowns wirklich lohnen.

Ioannidis kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass Lockdowns nicht helfen. Im Gegenteil: Lockdowns schaden der Gesundheit, da Operationen verlegt werden, andere Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck etc. von Gesundheitsdiensten weniger behandelt werden und zudem häusliche Gewalt und psychische Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen zunehmen. In der Summe, so Ioannidis, werden mehr Menschen an den Folgen des Lockdowns umkommen als an Covid-19.

Die Studie führt uns vor Augen, dass es gerade heute darauf ankommt, wie wir Gesundheit definieren. Einige klammern sich an Infektionsraten, ausgelastete Intensivbetten und Sterbefälle – für diese sind diese nackten Zahlen Gesundheit. Unser Verstand, als Reiter des Elefanten, sollte aber darüber nachdenken, wie wir Gesundheit ganzheitlich verstehen können, um auch Probleme zu thematisieren, die nicht klar numerisch abgebildet werden können.

Indem wir mehr reflektieren und nicht ausschließlich emotional unsere Urteile fällen, wird sich auch unser Bauchgefühl ändern. Wir reagieren weniger ängstlich oder wütend auf die täglichen Schreckensmeldungen und beginnen, ein inneres Gefühl dafür zu entwickeln, ob es sich tatsächlich lohnt den Elefanten in Rage geraten zu lassen, statt ihn zu zügeln.

Unser Bauchgefühl wird sich verändern, und wir werden merken, dass unser Elefant weitaus zahmer wird. Gelegentlich mag es noch immer vorkommen, dass sich unser Verstand doch einmal irrt. Ein aufgeklärter Elefant wird dann aber besonnen reagieren und sich weigern, eine unmoralische Tat zu begehen – so wie sich die Elefanten in Kriegszeiten weigerten, trotz Befehl ihrer Reiter wehrlose Menschen zu zertrampeln.

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2 Kommentare

Christa Ludewig 31. Januar 2021 - 11:41

LIeber Vincent, danke für deinen Bericht vom Elefanten und seinem Reiter. Ich habe ihn mit Interesse gelesen.

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