Das Ende des Sozialismus wird häufig mit dem Fall der Berliner Mauer verbunden. Aber der Schein trügt, wie der Kronstädter Matrosenaufstand von 1921 zeigt.
Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Mit ihr fiel auch die DDR und in kurzem Abstand danach auch die Sowjetunion. Das Ende des Kommunismus, der Sieg des Kapitalismus – so tönten die politischen Beobachter. Das kapitalistische System habe sich als das überlegene erwiesen. Es werde in Zukunft nur noch ein System geben: die liberale Demokratie.
Die Zuversicht, mit der diese Prognose gemacht wurde, mag aus heutiger Sicht befremden. Allzu sicher ist sich im Jahre 2021 niemand mehr, dass liberale Demokratie und Kapitalismus der Weisheit letzter Schluss sind oder zumindest gemeinsam als alternativloses System auf ewig vorherrschen werden.
Das Narrativ des Scheiterns des Kommunismus im späten 20. Jahrhundert ist aber auch aus anderer Perspektive befremdlich. Hatte nicht Ludwig von Mises dargelegt, dass eine Gemeinwirtschaft notwendigerweise ohne Wirtschaftsrechnung auskommen müsse und daher einem Schiff gleiche, das ohne Kompass durch dichten Nebel führe? – ein hoffnungsloses Unterfangen! Wie ist dann aber die Langlebigkeit des Sozialismus erklärbar?
Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: der Sozialismus war nicht langlebig – was Ende des 20. Jahrhunderts sein Ende fand, war längst kein Sozialismus mehr.
Um diese Frage aber ausführlich zu beantworten, müssen wir ganz weit zurückgehen, zu den Anfängen der Sowjetunion – zum März des Jahres 1921. Vom 1. bis zum 18. dieses Monates empörten sich Sowjetische Matrosen in Kronstadt gegen die bolschewistische Regierung unter Lenin. Neben politischen und gesellschaftlichen Forderungen vertraten sie vor allem wirtschaftliche.
Was hatte sie dazu bewogen? Die desaströse Lage der Sowjetunion im Frühjahr 1921! Das Nationaleinkommen betrug ca. ein Drittel des Niveaus von 1913, die Industrieproduktion war auf ein Fünftel gesunken und Millionen Menschen waren verhungert, wie Stephen Cohen beschreibt.
Wie hatte es dazu kommen können? Im Anschluss an die Oktoberrevolution hatten die Bolschewiken ihre ideologischen Aspirationen in die Wirklichkeit umgesetzt. Ihr Ziel war die sozialistische Utopie. Und Kern dieser war das Ende des ‚anarchistischen Marktes‘ und die Einführung einer Planwirtschaft. Also die Umsetzung eines vorgefertigten Wirtschaftsplanes, der die Ökonomie von Grund auf designen sollte – eben der Sozialismus. Genau dies setzten Lenin und seine Getreuen um, was in der zweiten Hälfte des Jahres 1920 seinen Höhepunkt fand. Wenn es jemals einen modernen Staat gab, der wirklich sozialistisch war, dann wohl die Sowjetunion zu dieser Zeit.
Aber der Versuch, die Wirtschaft nach einem großen Plan zu gestalten, misslang im großen Stil, wie die Zahlen, die Cohen nennt, veranschaulichen – von Mises hatte Recht gehabt! Dies führte dann zum oben beschriebenen Kronstädter Matrosenaufstand, der zwar niedergeschlagen wurde, dessen Forderungen aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen waren. Die Sowjetunion kehrte der Planwirtschaft den Rücken zu und führte marktwirtschaftliche Elemente ein. Das geschah unter dem Slogan „Neue Ökonomische Politik“. Dies war mit Sicherheit weiterhin ein System, in dem der Staat großen Einfluss nahm. Und doch war es eben kein Sozialismus mehr. Es war ein interventionistisches System, in dem es wieder mehr als einen Akteur, mehr als ein Entscheidungszentrum gab – auch wenn diese individuelle, dezentrale Planung stets sehr eingeschränkt blieb.
Die Abkehr vom Sozialismus änderte sich auch unter der Ägide Stalins nicht. Zwar nahm dieser mit seiner Kollektivierung einige der wirtschaftlichen Freiheiten des Bürgers wieder zurück. Doch versuchte auch er nicht mehr, die Wirtschaft anhand eines vorgefertigten Planes zu gestalten. Der Sozialismus war ein für alle Mal aufgegeben worden. Der Ökonom Peter Boettke fast zusammen: “The Soviet system merely gave the appearance of a centrally planned system, when in reality the system depended crucially upon decentralized decision-making processes to achieve any degree of coordination.“
Was 1989 also scheiterte war nicht der Kommunismus (oder Sozialismus). Der hatte 1921 in den Händen der Kronstädter Matrosen seinen letzten Atemzug getan. Was 1989 sein Ende fand, war ein höchst interventionistisches System. (Etwas, das von Mises und von Hayek übrigens auch aufs Schärfste kritisierten – auf einer Linie mit dem späten Marx.) Vielleicht ist es dann die größte Leistung der Verteidiger des Kommunismus gewesen, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass dieser überhaupt noch so lange existiert hätte. Und das so erfolgreich, dass selbst die größten Kritiker der Planwirtschaft hierauf hereingefallen sind… Das ist es, was Michael Polanyi die „foolishness of history“ nennt.