Als 2007 das Computerspiel Bioshock erschien und den Spieler in eine private Stadt für Leistungsmenschen am Grunde des Atlantiks entführte, fand ich das noch unnötig. Wie Ansichten sich ändern können.
„In Próspera kannst du beim Bauen frei wählen zwischen allen Standards der OECD-Länder.“ erklärt mir Johannes mit strahlenden Augen und etwas zu lauter Stimme beim Spazieren durch das abenddämmernde Weende-Altdorf im Norden Göttingens. Próspera, das ist eine sog. Freie Privatstadt, ein Minimalstaat in Firmenbesitz, der derzeit in Honduras entsteht. Und zugleich nur eines der zahlreichen Projekte, die Johannes im Moment so stark umtreiben, dass keine Begegnung ohne ihre Erwähnung von statten geht. Denn Johannes, Anfang 20, mit mondförmigen Augen, etwas runder geworden über die Pandemie, wurde vom großen Virus erfasst: dem Auswanderwunsch.
Allein im Jahr 2019 sagten über 100.000 Deutsche ihrer Heimat Lebewohl. Doch ein Großteil dieser Auswanderung entspricht nicht dem Dokusoap-Bild, das uns im Fernsehen begegnet. Nur ein relativ kleiner Teil träumt vom Faulenzen in Spanien oder den schönen Frauen Ostasiens. Hauptziele der deutschen Flucht sind die Schweiz und Österreich, aber auch die USA und Großbritannien. Der durchschnittliche Auswanderer ist jung und hochqualifiziert, ein Leistungsmensch. Auch Johannes, jung, ehrgeiziger Jurastudent, oder sein ebenfalls vom ökonomischen Fernweh geplagter Freund Tobias fallen genau in dieses Muster.
Bereits gegangen ist Hendrik*, den ich über die MLPD (die libertäre Version) vor gut einem Jahr kennen lernen durfte. Der erfolgreiche freiberufliche Webentwickler ist samt Frau und Kindern in das Steuerparadies Paraguay gezogen. Er spricht mit einer überlegt-ruhigen Stimme, die immer etwas undurchschaubar bleibt. Seine Motivation: „Ich sehe nicht ein, warum ich über die Hälfte meines Einkommens abdrücken soll.“ Dazu kommen noch andere Erwägungen. Hendrik ist ein überzeugter Libertärer, will nicht zusehen, wie seine Kinder in deutschen Zwangsschulen heranwachsen, will für die inoffizielle Pressestelle der Grünen keine GEZ-Gebühr zahlen, will sich nicht zwangsimpfen lassen. Warum auch als Kapitalismusfreund in einem Land bleiben, wo der Immobilienunternehmer, der tausende Wohnungen baut, als gierig, der linke Aktivist, der sie verstaatlichen will um selber weniger Miete zahlen zu müssen, als selbstlos gilt?
Mit dieser Abneigung gegen das erzwungene Sozialkollektiv ist Hendrik nicht alleine. Inzwischen gibt es ganze Geschäftsmodelle rund um die Steuerflucht als neue Notwehr des bürgerlichen Leistungsträgers. Christoph Heuermann beispielsweise ist perpetual traveler, also eine Person, die beständig von einem Land ins nächste wandert, oft mit diversen Staatsbürgerschaften hantiert und genau so das beste Angebot sucht. Auf seiner eigenen Webseite bietet er für stolze 997 € Individualberatungen an: Welche Staatsbürgerschaften lohnen sich, wie oft muss man das Land wechseln um weitgehend steuerfrei zu leben und vieles mehr.
Ein anderer Vorkämpfer für die Rechte der Produktiven ist Titus Gebel. Der jung wirkende Mann in seinen 50ern mit dem krawattenlosem Hemd in Zartblau ist eine der treibenden Kräfte hinter Próspera oder, wie es im Verwaltungsenglisch heißt, der “Zone for Employment and Economic Development”. Eine ganze Stadt soll hier, weitgehend befreit von staatlicher Bürokratie und ungefragten Zwangsdienstleistungen auf der Insel Roatán entstehen. Verwaltet von einem Unternehmen, abgesichert durch eine höchst kontroverse Änderung der hondurischen Verfassung und mit einer 10% Flat Tax. Beginn der Bauarbeiten an den neofuturistischen Wohnsiedlungen war April 2021.
Christopher Heuermann und Titus Gebel gehören auch zu Johannes’ Inspirationsquellen. Johannes erzählt wehmütig von günstigen Immobilien in Afrika und Südamerika: „Beständig Reisen ist doch superdynamisch. Und in einigen Teilen Afrikas gibt es ganze Villen für ein paar zehntausend Euro.“ Dennoch plant er aktuell nicht den perpetual traveler, sondern hat eine zypriotische Staatsbürgerschaft ins Auge gefasst. Einziges Problem: Muss er dafür seinen Studienschwerpunkt wechseln? Internationales Handelsrecht lässt sich deutlich besser auch von Zypern aus bearbeiten, als deutsches Arbeitsrecht. Er hadert noch.
Nachdem wir Weende-Altdorf in all seiner deutsch-durchregulierten Langeweile hinter uns gelassen haben, verabschiede ich mich von Johannes und muss unwillkürlich an meine Steuererklärung denken. Zurück bleibt nur die Frage: Was ist eigentlich schief gelaufen, dass eine der aktivsten libertären Communities in Deutschland ausgerechnet jene der angehenden Auswanderer ist? Es gibt Abende, da beschleicht mich ein Gefühl der deutschen Ausweglosigkeit.
* Name zum Schutz der Anonymität geändert