Die Ökonomik betont, dass es solche Konsequenzen unserer Handlungen gibt, die man offensichtlich sieht, und jene, die man kaum sieht – die die Ökonomik aber aufzeigen kann. Umverteiler und soziale Gerechtigkeitsbefürworter übersehen meist die Kosten ihrer Reformen – und den, der sie trägt: der Vergessene Mann.
Vor mehr als einem Jahrhundert schrieb der US-amerikanische Denker William Graham Sumner von einem Mann, der häufig auch eine Frau ist. Es ist der Mann, der stets arbeitet; der als braver Bürger seiner Pflicht nachkommt, sich selbst und seine Familie zu erhalten; der dem Staat Steuern entrichtet und sich nie beschwert; der niemals im Leben daran denken würde, den Staatsapparat zur eigenen Bereicherung zu missbrauchen. Es ist der Mann, der dafür aufkommen muss, wenn die Politik Geld ausgibt. Es ist der Mann, der viel zu oft übersehen wird und den wir auch heute wieder so nennen dürfen, wie ihn Sumner Ende des 19. Jahrhunderts taufte: der Vergessene Mann.
Höheres Arbeitslosengeld, mehr Unterstützung für Familien, Erweiterung der Corona-Hilfen, Aufstockung der Rente – die Liste staatlicher Umverteilungsmaßnahmen könnte wohl endlos weitergeführt werden. Sie alle klingen schön. Jeder hat ein Herz für jene, die gerade ihren Job verloren haben oder die im Alter wenig Geld zu Verfügung haben. Aber der schöne Klang darf uns nicht dazu verführen, die Augen zu schließen. Denn jeder einzelne Euro, den die Politiker ausgeben, muss vorher erwirtschaftet werden. Und er wird nicht von denen erwirtschaftet, die ihn ausgeben.
Wenn Politiker A und Politikerin B zusammenkommen, um ihre noblen Maßnahmen durchzusetzen – den Armen helfen, die Mittelschicht stärken, Arbeitslosen unter die Arme greifen – dann entscheiden sie sich der Person D zu helfen. Aber sie helfen D nicht mit ihrem selbst erwirtschaftetem Geld. Nein, A und B entscheiden, was C für D tun soll. C ist der Vergessene Mann – oder die Vergessene Frau. Denn es gibt keinen ‚free lunch‘: alles, was A und B dem D Gutes tun, müssen sie C vorher wegnehmen. Es ist kaum nötig, groß zu erläutern, dass viele staatliche Maßnahmen von niemandem als nobel beschrieben würden: beispielsweise Vergünstigungen für gut organisierte Partikularinteressen, der Aufbau von Marktbarrieren oder Korruption (A und B sind selbst D). Auch hierfür zahlt der Vergessene Mann – und sei es durch höhere Preise, die er zahlen muss, weil der Wettbewerb eingeschränkt wird. Niemand würde das als Gutes tun bezeichnen. Die Essenz ist aber: um D etwas zu geben, muss C vorher etwas weggenommen werden.
Das klingt drastisch. Aber es beschreibt, was jeder weiß. Wohlstand fällt nicht vom Himmel. Jemand muss ihn erarbeiten. Und jene, die ihn erarbeiten, übersehen wir allzu häufig. Es ist eine Variation dessen, was Frédéric Bastiat in seiner Parabel vom zerbrochenen Fenster beschrieben hat: „was man sieht und was man nicht sieht.“
Dabei ist C gerade das Rückgrat der Gesellschaft. Es ist der Arbeiter, der von 18 Lenzen an ohne zu Murren am Fließband steht. Es ist die Unternehmerin, die mit kleinem, steuergeplagtem Einkommen ihren Second-Hand-Laden betreibt. Es ist der Selbständige, der noch nie lobbyiert hat und der keinen teuren Firmenwagen fährt, sondern große Rücklagen für sein Unternehmen aufbaut. Es ist der ältere Herr, der nach 45 Jahren der Arbeit seine Rente aufbessert, indem er zweimal die Woche beim Mittelständler um die Ecke aushilft. Es ist die sparsame Kassiererin, die 30 Jahre lang auf den teuren Auslandsurlaub verzichtet hat, um sich im Alter das Eigenheim leisten zu können. Es ist der Mittfünfziger, der entlassen wird und sich sofort einen neuen Job in einer ganz anderen Branche sucht, weil er nicht auf anderer Leute Kosten leben will.
Es sind diese Leute, die zur Kasse gebeten werden, wenn A und B ihrer ‚Philanthropie‘ frönen. Und es ist leider allzu häufig der Fall, dass diese Leute eine Person D zu unterstützen gezwungen sind, die gerade das missen lässt, was die Vergessenen Männer und Frauen auszeichnet. Zu oft ist D die junge Studentin, die stets das neueste iPhone besitzen und die tollsten Reisen unternehmen muss – bis die Privatinsolvenz kommt. Es ist der Arbeitslose, der arbeiten könnte, aber keine Lust hat, jeden Morgen um 7 Uhr aufzustehen. Es ist der Unternehmer, der stets den neusten Mercedes fahren wollte und der deswegen keine Rücklagen hatte und nun gerne die Corona-Hilfen in Anspruch nahm. Es ist die Firmen-Eigentümerin, die allerbeste Beziehungen zu Politik und Bürokratie unterhält, um Marktbarrieren aufzubauen, damit sie vor Konkurrenz geschützt ist. Es ist der Politiker, der Steuergelder veruntreut und seinem privaten Unternehmen oder der Familie Aufträge zuschanzt. Es ist die Bürokratin, die mit ihren Insider-Informationen mit Aktien handelt, anstatt ihren beruflichen Pflichten nachzukommen.
Ja, es gibt jene, die sich selbst nicht erhalten können. Und jene sollten unterstützt werden. Das ist unser aller Verantwortung: es zählt zu unseren moralischen Überzeugungen, dass wir für jene zu sorgen haben, die das selbst nicht schaffen. Und diese Verantwortung sollte jedem so klar und evident sein, dass staatliche Maßnahmen hier bestenfalls überflüssig sind – einiges spricht dafür, dass, wie nahezu überall, der freie Markt zu einer besseren Fürsorge führen würde als die staatliche Organisation. Aber nichts an dieser moralischen Verantwortung kann rechtfertigen, dass A und B darüber entscheiden, was C für D zu tun hat. Für eine Person D, die C sein kann – und sein sollte. Man mag einwenden, dass in einer Demokratie der C mitbestimmen kann. Dieser Einwand überzeugt aber nicht. Denn in einer Demokratie kann einerseits die Mehrheit eine Minderheit ausnutzen. Und andererseits haben politische Entscheidungen so oder so ihr Eigenleben. Losgelöst von dem, was die Wähler wirklich wollten.
C ist nicht notwendigerweise der Vergessene Mann. Er wird zum Vergessenen Mann, wenn Politik und Gesellschaft ihn vergessen. Aber das muss nicht sein. Das Bewusstsein für denjenigen, der finanziert was Politiker A und B ausgeben, muss einen Weg zurück ins Gedächtnis aller finden. Dann wird aus dem Vergessenen Mann der Geachtete und Beachtete Mann. Einer, den kein Politiker in seinen Entscheidungen übersehen darf. Und einer, bei dem man es sich zweimal überlegt, ob er gezwungen werden sollte zu zahlen für einen D, der ein C sein könnte. Es aber nicht sein will.