Dr. Arash Molavi Vasséi ist Asisstenz-Professor an der Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul. Er interessiert sich insbesondere für die volkswirtschaftliche Theoriegeschichte.
Was heißt Freiheit für Sie?
Selbstbestimmung. Natürlich beschränkt durch die Selbstbestimmungsrechte anderer. Artikel 2(1) des Grundgesetzes bringt es eigentlich auf den Punkt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt …“. Selbstbestimmung bedeutet aber auch, sich an seinen Entscheidungen messen lassen zu müssen, für diese zu haften. Darüber hinaus impliziert Freiheit als Selbstbestimmung, ethische Urteile nicht auf Dritte abzuwälzen, sondern auch diese Verantwortung selbst zu tragen. „Sapere aude!“
Welches Buch (oder Bücher) haben Sie bisher am meisten verschenkt?
Während meiner Jugend, lange ist es her, waren es primär die Werke Friedrich August von Hayeks, vor allem die Verfassung der Freiheit. Mittlerweile definiere ich mich primär als Ökonom und bin wie die meisten meiner Kollegen und Kolleginnen durch eine Vielzahl von Beiträgen in Fachzeitschriften sowie wenigen Monografien beeinflusst. Als Wissenschaftler verehrt man viele Werke, stellt aber keines auf ein Podest. Die Autoren schon gar nicht. Findet Euren eigenen Weg, indem Ihr möglichst breit und ohne Scheuklappen lest.
Was erwarten Sie in puncto Freiheit vom 21. Jahrhundert?
Freiheit ist anstrengend, daher halte ich es mit Ronald Reagan: „Freedom is a fragile thing and it’s never more than one generation away from extinction.” Angesichts der notorischen Selbstzweifel des Westens – der liberalen Demokratien – weiß ich beispielsweise nicht, ob wir kredibel zusammenstehen werden, um unseren zunehmend aggressiven geostrategischen Rivalen gemeinsam die Stirn zu bieten. Die liberale Hoffnung des „Wandels durch Handel“ hat sich zumindest im Fall Chinas als Illusion entpuppt. Anders als die graue Sowjetunion des Kalten Kriegs ist das chinesische Modell verführerisch, weil ökonomisch bislang erfolgreich. Gewinner sind unwiderstehlich und möchten nachgeahmt werden. Dieser und anderen „Versuchungen der Unfreiheit“ (Dahrendorf) gilt es jedenfalls zu widerstehen.
Wo sind für Sie die Grenzen der Freiheit? Wann muss Freiheit eingeschränkt werden?
Offensichtlich dort, „wo die Freiheit des Anderen beginnt“ (Kant). Darüber hinaus gilt die ökonomische Einsicht, dass auch eine Gesellschaft freier, eigenverantwortlicher Individuen in sozial ‚unerwünschten‘ Gleichgewichten verharren kann. Beispielsweise kann man mit Appellen an die Eigenverantwortung des freien Bürgers weder den Klimawandel noch eine Pandemie in den Griff kriegen. Jetzt mein präferenz-utilitaristisches Werturteil: Gegebenenfalls implizieren wirksame Maßnahmen gegen solche gesellschaftlichen Unwuchten, dass Freiheiten auch mal eingeschränkt werden müssen. Stichwort: Ordnungsrecht. So stark wie nötig, so schwach wie möglich. Aber als Ökonom dreht man ohnehin lieber am Anreizdesign, um das Gemeinwohl zu fördern.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Freiheit in den letzten 100 Jahren?
Unterm Strich sehr positiv, jedenfalls für weite Teile der Welt. Welcher Europäer hätte 1921, also kurz nach dem „Großen Krieg“, sein Geld auf die wie selbstverständlich gelebten ‚vier Grundfreiheiten‘ einer Europäischen Union setzen wollen? Wer hätte damals gedacht, dass hundert Jahre später nahezu alle Arten zu leben und zu lieben mit der liberalsten aller Reaktionen begegnet werden würde: dem benign neglect. Ganz zu schweigen von der zunehmenden ökonomischen Verflechtung, die Millionen von Menschen aus der absoluten Armut befreit hat. Wir dürfen aber die Frauen und Männer in Afghanistan nicht vergessen, die soeben in die Hände der Taliban fallen und aller Freiheiten beraubt werden. Oder dass Iranerinnen und Iraner seit mehr als vierzig Jahren eine demütigende Priesterherrschaft ertragen müssen; dass in China wieder Konzentrationslager im Betrieb sind, die der Zerstörung einer Ethnie dienen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Es bleibt also viel zu tun.
Wenn Sie eine riesige Botschaft am Brandenburger Tor platzieren könnten, was würde darauf stehen?
Taiwan is a country! Weil dem so ist. Und um die Bundeskanzlerin, die ich ansonsten schätze, ein wenig in Bedrängnis zu bringen.
Welchen Rat würden Sie einem klugen, motivierten Studenten geben, der gerade sein Studium abgeschlossen hat und in die Jobwelt eintritt? Welchen Rat würde Sie ihm raten zu ignorieren?
Ich würde ihr vor allem raten, meinen Rat zu ignorieren. Immerhin bin ich ein weltfremder Akademiker. Wenn sie aber meinen Rat unbedingt hören will: „Folgen Sie nur dann Ihrem Herzen und Ihren Leidenschaften, wenn sie sich das Risiko klargemacht haben und es trotzdem wollen.“ Zudem: „Sie hören von anderen eher die im Nachhinein oft verklärten Erfolgsgeschichten, selten von den verdrängten Misserfolgen. Seien Sie sich dessen bewusst, wenn Sie sich an anderen messen.“ Schließlich: „Wenn Ihnen erfolgreiche Menschen erzählen, sie müssten nur hart arbeiten, um Ihre Ziele zu erreichen, denken Sie an den Survival Bias. Harte Arbeit ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für beruflichen Erfolg. Es gehört auch Glück dazu, bzw. Variablen, die außerhalb Ihrer Kontrolle liegen. Also grämen Sie sich nicht zu sehr über Misserfolge und stehen wieder auf. Und vergessen Sie bei Ihren Erfolgen nicht die Menschen, die Ihnen dazu verholfen haben“.
Lieber eine freie, aber arme Gesellschaft oder eine prosperierende Diktatur?
Die Frage unterstellt einen negativen Freiheitsbegriff, den ich so nicht teile. Welche sinnvolle Definition von Selbstbestimmung liegt vor, wenn ich schwer krank bin, mir aber die notwendige Versorgung nicht leisten kann? Wie selbstbestimmt bin ich, wenn ich mich in bitterer Armut entscheiden muss, ob ich auf den Strich gehe oder nicht? Absolute Armut ist nur mit einem sehr abstrakten Freiheitsbegriff vereinbar. Das ist nichts für mich. Ich bin kein Held: Ich will essen, lachen, lieben. Das geht in einer prosperierenden Diktatur eher als in absoluter Armut. Und vielleicht habe ich ja Glück und werde hinter Rawls‘ Schleier des Nichtwissens als Diktator gelost oder gehöre zu seiner Elite.