Kommt die Impfpflicht? Wäre sie zweckdienlich? Wäre sie gerecht? Antworten auf diese Fragen sind notwendig. Ein in letzter Zeit populärer Verweis ist jener auf die Popularität der Impfpflicht. Aber gerade deren Popularität sollte in einem liberalen Staat eben nicht relevant sein.
Die große Mehrheit der Deutschen ist für eine Impfpflicht, erklärt der Spiegel, der diese Umfrage in Auftrag gab. Auch im ARD-DeutschlandTrend wird die Frage der Unterstützung für eine Impfpflicht behandelt.
Die Feststellung der Meinung (oder eher von Umfrageantworten) via einer repräsentativen Umfrage ist an und für sich unbedenklich. Bedenklich wird es erst, wenn von der Mehrheitsmeinung Schlüsse gezogen werden, wie es beispielsweise Joachim Hermann, Bayerns Innenminister (CSU) tut. Denn was die Mehrheit über eine Sache denkt, die in der privaten Sphäre des Einzelnen liegt, sollte gerade nicht relevant dafür sein, was angebracht oder gerecht ist.
Es ist die große Errungenschaft des liberalen Staates stark beschränkt zu sein. Die Bürger verwalten die meisten Belange ihres Lebens selbst. Es gibt keine demokratische Entscheidung über den Job, in dem Sabine arbeitet, über das Fahrrad, mit dem Tom zur Schule fährt, über die Kleidung, die Johanna anzieht, über die Freunde, mit denen Kim ihre Zeit verbringt oder über die Bücher, die Stefan liest. Es gibt sozusagen einen großen persönlichen Bereich, in dem jede Einzelne souverän ist. Ein Bereich, in dem nur man selbst entscheidet. Es ist ein Bereich, der vor dem Staat – sei er ein von einem Diktator geführter oder eine demokratisch gewählte Regierung – geschützt ist.
Eine sogenannte Impfpflicht würde genau in diesen privaten Bereich eindringen. Sie würde eine intime Entscheidung den Händen des Bürgers entreißen. Das muss nicht unangebracht sein. Denn von Freiheit zu sprechen, ergibt nur in der Gesellschaft Sinn. Dann ist Freiheit aber nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern jenes System von Zwang und Einschränkungen, in welchem diese auf ein Minimum reduziert und/oder (zumindest theoretisch) durch Zustimmung aller legitimiert sind.
Gerade dafür ist aber die Mehrheitsunterstützung nicht ausreichend. Ist es in Ordnung, wenn eine Klasse einen Mitschüler schikaniert und fertigmacht? Mit Sicherheit nicht. Aber, und das ist das Wichtige, der Umstand, dass 29 von 30 Schülern solch ein Mobbing gutfänden, würde es weder gut machen noch legitimieren. Die Mehrheitsmeinung wäre schlicht irrelevant. Und genauso ist es egal, ob 50,1% oder vielleicht gar 80% der Deutschen eine Impfpflicht befürworten. Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung bei derart persönlichen Fragen sollte in einem liberalen Staat gerade nicht relevant sein.
Es zeigt sich hier eine Verwirrung, die das Denken vieler durchdringt. Es wird nicht strikt getrennt zwischen der Frage, welche Entscheidung von wem getroffen wird und jener Frage, wie der Staat (so er entscheidet) seine Entscheidung trifft. Die erste Frage – so etwas wie: darfst du deinen Beruf frei wählen? – wird beantwortet vom Liberalismus oder Illiberalismus eines Landes. In einem liberalen System steht diese Entscheidung dem Bürger frei. Nur er darf sie treffen. Freiheit hängt also damit zusammen, wie umfangreich der persönliche Bereich ist, in dem jede Einzelne entscheidet. Wo nicht „der Staat“ entscheidet.
Die zweite Frage betrifft wie die Entscheidung (so sie der Staat trifft) getroffen wird. Würde der Staat die Entscheidung der Berufswahl für den Bürger treffen, bliebe immer noch die Frage übrig, wie das entschieden werden sollte. Diktatorisch, indem ein Einzelner entscheidet? Oder vielleicht demokratisch, indem diese Entscheidung durch Mehrheitswahl getroffen wird?
Entscheidend dabei ist, dass die (Il-)liberalität unabhängig ist von der Frage, wie der Staat, wenn er entscheidet, die Entscheidung trifft. Es macht keinen Unterschied für die Freiheit des Einzelnen ob er von einem Despoten oder von einer Mehrheit unterdrückt wird. Die Warnung vor diesem Umstand findet sich im Schlagwort der „Tyrannei der Mehrheit“.
Wer nicht aufpasst, verläuft sich schnell zwischen diesen zwei gewaltigen Dimensionen. Eine Verwechslung, die weitreichende Folgen haben kann. Denn: Auch demokratisch geht die Freiheit zugrunde. Oder, genauer: auch demokratisch kann die Freiheit zugrundegehen.