Der dänische Minister Karl Kristian Steincke war Vorreiter des Wohlfahrtsstaates – und Eugeniker sowie Befürworter von Zwangssterilisierungen. Ein Zusammenhang, der mit der inneren Logik des Wohlfahrtsstaates verbunden und auch heute noch relevant ist.
“We treat the inferior individual with all care and love, but forbid him, in return, only to reproduce himself.“ (Sinngemäß: wir behandeln das minderwertige Individuum mit aller Fürsorge und Liebe, verbieten ihm aber im Gegenzug, sich fortzupflanzen.) Das ist ein berühmter Satz K.K. Steinckes aus seinem Standardwerk Fremtidens forsørgelsesvæsen. Es ist ein Satz, der einen bei einem Sozialdemokraten, Minister Dänemarks und federführenden Gestalters des dänischen Wohlfahrtsstaates überrascht. Und doch stimmt es: Dänemark, einer der führenden Wohlfahrtsstaaten, war das erste europäische Land, welches ein Gesetz über Sterilisation und Kastration (1929) verabschiedete. Ein Land, in dem viele “minderwertige Individuen“ (zwangs-)sterilisiert wurden, womit sogenannte Asoziale, geistig und körperlich Behinderte und (für den Staat) diesen ähnliche Menschen gemeint sind. Dänemark war damit nicht allein. Diese Praxis der (Zwangs-)sterilisationen war in Skandinavien von ca. 1930 bis in die 1970er hinein verbreitet. In Schweden liegt die Zahl bei ca. 62.000 Menschen, in Dänemark bei 10.000 und in Finnland bei 11.000.
Dass mit K.K. Steincke gerade ein Wohlfahrtsstaatbefürworter bei den Zwangssterilisationen an vorderster Front stand, könnte natürlich auch Zufall gewesen sein. Im Fall des dänischen Ministers bestand aber durchaus ein kausaler Zusammenhang. Dieser empirische Fall ist aber nicht Fokus dieses Artikels. In diesem Artikel geht es um die Frage, ob es logisch einen Zusammenhang zwischen solchen Zwangssterilisationen und dem Wohlfahrtsstaat gibt – und ob solch ein Zusammenhang auch heute, wenn auch wohl in anderer Ausprägung, auftritt.
Dafür müssen wir dem Wohlfahrtsstaat erstmal auf den Zahn fühlen: Die schlichte Idee hinter diesem ist der Schutz des Einzelnen vor einem schweren Schicksal. Wer einen Arbeitsunfall erleidet, wird von der Gesellschaft aufgefangen. Wer sich nicht selbst ernähren kann, wird von den anderen unterstützt. Dabei gab es diese Art von Versicherung (wie natürlich Wohlfahrt allgemein) auch von privater Hand. Ein privates Versicherungssystem, in dem der Einzelne sich versichert für den Fall eines Unfalls. Da privat, waren und sind solche Versicherungen jedoch notwendigerweise bedingt und eingeschränkt. Risikopatienten müssen mehr zahlen. Wer sich risikoreich verhält, dem werden die Beiträge erhöht oder dem wird dieses Verhalten untersagt. Der ein oder andere wird vielleicht gänzlich abgelehnt.
Genau das ist aber eine große Schwäche – und hier setzt der Wohlfahrtsstaat an. Denn was der Wohlfahrtsstaat bietet, ist die Möglichkeit, jeden zu sichern und zu schützen und ihm darauf gar ein Recht zu geben. Das ist häufig wohl auch die Motivation hinter der Einführung so eines Regimes gewesen. Eben weil private Fürsorge und Vorsorge begrenzt war, da sie sich wirtschaftlich rechnen musste, wollten Politiker eingreifen und diese allen zukommen lassen. Und durch Steuerfinanzierung ist das zuerst auch gut möglich.
Aber nur vorerst. Denn die Motivation hinter dem Wohlfahrtsstaat verhindert die Kostenkontrolle, wie sie dem privaten Unternehmen offensteht: Der Staat kann und will niemanden ausschließen. Der Staat kann dann auch nicht jene ausschließen, die sich risikoreich verhalten. Und schlussendlich kann und will der Staat auch nicht den Preis an die erwarteten Kosten knüpfen – also Preisdiskriminierung betreiben, wo bspw. der mit einer Erbkrankheit geschlagene mehr zahlen muss.
Da aber letztlich auch die Steuerpfründe endlich sind, steht der Wohlfahrtsstaat vor einem großen Kostenproblem. Er umfasst alle (und will es), hat sehr hohe Kosten – zumal manche die Chance, auf Kosten anderer Vorteile zu erhaschen, ausnutzen – und kann nicht den klassischen Weg von Kostenkontrolle (Exklusion, Preisdiskriminierung) gehen, wie es am privaten Markt stattfände.
Ein Ausweg aus dieser vertrackten Situation ist dann die Kontrolle der Kosten über die Reduktion der Gruppe der Abhängigen. Genau das wurde in den skandinavischen Ländern dieser Zeit praktiziert. Je weniger Menschen es gibt, die dem Wohlfahrtsstaat Geld kosten, desto besser. Da nun viele, die dem Wohlfahrtsstaat hohe Kosten bereiteten, jene waren, die Kinder bekamen und sie nicht finanzieren konnten, war die Lösung: Sterilisierungen – Sterilisation der Wohlfahrtsabhängigen (der “minderwertigen Individuen”) zur Kostenkontrolle also. In anderen Worten, präventiv eingreifen, damit es keine Familien gibt, die vom Staat finanziert werden müssen. Und damit auch verhindern, dass in Zukunft mehr abhängige Menschen existieren. Die Überlegungen in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten waren auch wirklich so motiviert, wie der schwedische Geisteswissenschaftler Rolf Höijer bemerkt, auch wenn andere Gesichtspunkte, wie allgemeine Ansichten über Eugenik ebenfalls relevant waren. Höijer (Government Regulation of Behaviour: In Public Insurance Systems) hatte auf Grundlage dieses (und eines weiteren) Beispiels auch diese Überlegungen zum Wohlfahrtsstaat bzw. Interventionismus angestellt, die in diesem Artikel reproduziert werden.
Diese Umwege der Kostenregulierungen sind auch heute mit uns. Sie konzentrieren sich heutzutage wohl eher auf die Regulierung des Verhaltens der Menschen. Sie kommen daher im Kleid der „Prävention“ und der „Verbote“ und auch “Gebote”. Denn, wie Clemens Schneider vom Prometheus-Institut schreibt, wir haben ein Problem des „Vollkasko-Staates“ – Einzelne belasten die Gemeinschaft mit hohen Kosten. Zum Beispiel weil sie Risikosport betreiben oder, obwohl Risikogruppe, die Corona-Impfung ablehnen. Schneider fordert nun berechtigterweise „Haftung und Verantwortung wieder zusammen[zu]bringen.“ Aber das wird kaum auf dem ‚privaten‘ Weg gelingen: denn das würde eine radikale Abkehr vom Wohlfahrtsstaat erfordern. Um genau zu sein das Ende des Wohlfahrtsstaates. Etwas, das nicht realistisch scheint.
Da scheint es naheliegender für die aktuelle Politik, die Kosten ihres Wohlfahrtsstaates dadurch zu kontrollieren, dass sie den Menschen Dinge verbietet, wie es die Neuseeländer in Bezug auf Rauchen tun. Dass sie den Menschen Dinge auch gebietet, zum Beispiel durch eine Impfpflicht. Letztlich bedeutet es, dass der Staat stärker die Freiheit des Einzelnen beschränkt. Es ist ein Trade-Off zwischen der Sicherheit und den Rechten, die der Wohlfahrtsstaat bietet, und den Pflichten und der eingeschränkten Freiheit, die er erfordert. Denn im Wohlfahrtsstaat haftet der Staat – die Gemeinschaft. Und daher ist es auch er, der die Verantwortung tragen muss. So werden Haftung und Verantwortung wieder enger beieinander liegen – aber nicht in den Bürgern, sondern im Staat.