Maja Beckers hat im Zeit-Feuilleton einen bemerkenswerten Artikel mit einer Kritik am liberalen Wissenschaftsverständnis, insbesondere an dem des Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich von Hayek, geschrieben. Bemerkenswert ist dieser Artikel nicht etwa aufgrund einer profunden Kritik am Liberalismus oder an Hayek. Die sucht man darin vergebens. Interessant sind Beckers‘ Ausführungen viel mehr, weil sie gleich eine ganze Reihe an unfreiwillig weitreichenden Selbstoffenbarungen beinhalten.
Die Gefälligkeit des Strohmanns
Weiß der Markt mehr als die Wissenschaft? Mit dieser Frage nimmt Beckers „den Liberalismus komplett auseinander“ (so der Zeit-Feuilleton-Kollege Lars Weisbrod auf Twitter). Weiß der Markt also mehr? Die tatsächliche Antwort ist ebenso klar wie unbefriedigend: ja und nein. Denn die Frage suggeriert einen falschen Konflikt.
In seinem wegweisenden Aufsatz “Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft” arbeitete Hayek heraus, dass das Kernproblem einer funktionalen Wirtschaftsordnung ein Wissensproblem ist: Von den Millionen von Akteuren einer global-arbeitsteiligen Wirtschaft hat jeder nur einen Bruchteil des insgesamt vorhandenen Wissens zur Verfügung, das sich auf die Knappheit von Gütern, ihre konkrete Ersetzbarkeit und deren jeweilige Nachfrage bezieht. Wie lässt sich ein derart zersplittertes Wissen nutzbar machen und das Handeln der Menschen koordinieren – Menschen, die meist nicht einmal die gleiche Sprache sprechen oder sich jemals persönlich getroffen haben? Auch wenn es dem Wunschdenken Frau Beckers’ zuwider sein mag, der Versuch einer zentralen Sammlung und Verwertung dieses Wissens – sei es durch Bürokraten oder Wissenschaftler – würde eine drastische Komplexitätsreduktion zur Folge haben, die mit dramatischen Wohlstandsverlusten einhergehen würde (wie man an jedem zentralplanerischen Experiment bisher sehen konnte). Ein solches Maß an Dynamik und Komplexität, wie es eine globalisierte Wirtschaft erfordert, kann nur mit Hilfe der dezentralen Marktprozesse funktionieren, die über den Preismechanismus genau jene Informationen über Knappheit und Nachfrage genau an die Akteure kommunizieren, die sie benötigen. Die Generierung von abstraktem wissenschaftlichen Wissen, von theoretischen Zusammenhängen in Natur und Gesellschaft, hat damit unmittelbar nichts zu tun.
Selbst ein oberflächliches Verständnis dessen macht klar, dass Wissenschaftler dementsprechend keine Wirtschaftsplanung betreiben und Unternehmer keine Wissenschaft. Das Gegenteil zu versuchen, ist es, was Hayek eine “Anmaßung von Wissen” nannte. Ist Beckers das entgangen? Oder hat sie Hayek gar nie gelesen?
Es fällt jedenfalls auf, dass Beckers Hayek nur soweit zitiert, dass seine Aussagen noch ins Gegenteil ihrer eigentlichen Bedeutung verdreht werden können. So stand bei Hayek der denkende und fühlende Mensch als Individuum im Mittelpunkt seiner ganzen Wirtschafts- und Sozialtheorie. Jeder Mensch hatte für ihn das Recht, sein eigenes Wissen und seine eigenen Fähigkeiten nach seinen eigenen Präferenzen in die friedliche Arbeitsteilung einer modernen Gesellschaft einzubringen. Das hat mit der Einfältigkeit, die Beckers skizziert, nichts gemein. Derart wird eine ganze Reihe von bloßen Strohmännern aufgebaut (“Liberale glauben nicht an Aids”, etc.), die dann natürlich genüsslich abgeräumt werden. Beckers zerlegt also nur ihre eigenen Pappkameraden, aber nicht Hayek oder “die Liberalen”.
Dass ausgerechnet bei einem Artikel, der sich mit der Bedeutung von Wissen und Wissenschaftlichkeit auseinandersetzt, die Autorin ihr Unwissen ebenso unfreiwillig wie ungeniert zur Schau stellt, entbehrt einerseits nicht einer gewissen Ironie.
Andererseits scheint gerade das exemplarisch für ein immer weiter um sich greifendes Phänomen zu sein. Immer mehr Intellektuelle scheinen zu einer Art Twitter-Intelligentsia zu verkommen, der es nur noch um den Szenenapplaus der eigenen Bubble geht. Solange man die richtigen Reizworte wiederholt und die altbekannten Feindbilder bedient, sind die Likes und Retweets gewiss. So frohlockte auch Beckers‘ Echo-Kammer ob des „grandiosen“ „Diss“ gegen die “furchteinflößenden”, „neoliberalen“ „Wissenschaftsleugner“.
Die Aufmerksamkeits-Ökonomie der sozialen Medien verlangt immer einseitigere, spitzere und ätzendere Polemiken für die Klicks – für einen berauschenden Triumph, der in Sekunden entsteht und ebenso schnell wieder vergeht. So kann man Anerkennung und die eigene Wichtigkeit fein sauber in Zahlen ablesen. Nicht wenige scheinen den toxischen Versuchungen dieser Aufmerksamkeits-Spirale zu erliegen.
Spalten tun nur die anderen!
Diese Zelebrierung der Rechthaberei für Likes und Klicks macht einen Diskurs, der die Gesellschaft voranbringt, beinahe unmöglich. Man beobachtet hier nicht mehr nur die oft beklagte Polarisierung der Gesellschaft, sondern eine bewusste Tribalisierung. Die Lager liegen nicht mehr nur weit auseinander, sondern stehen sich auch unversöhnlich gegenüber. Es findet eine Rückkehr des längst überwundenen, prä-zivilisatorischen Stammesdenken statt – vor dem auch Hayek eindringlich warnte. Aber spalten tun ja immer nur die andern.
Diese Gewissheit, stets zu den Guten zu gehören, ist Teil der essentiellen Selbstvergewisserung des eigenen Stammes, der In-Group. Die permanente Reproduktion der eigenen Vorurteile ist unersetzlich, um das Überlegenheitsgefühl aufrechtzuerhalten. Ehrliches Erkenntnisstreben, das die Möglichkeit des eigenen Irrtums immer mit einschließt, kann dabei nur hinderlich sein. Klassische akademische Tugenden wie Redlichkeit gegenüber dem Widersacher und Demut vor der Komplexität eines Themas und der eigenen Fehlbarkeit kommen unter Feuilleton-Intellektuellen immer mehr aus der Mode.
Wenn das Zeit-Feuilleton gegen Hayek ins Feld zieht, erinnert es an das Bonmot des großen Liberalen David Hume: in der philosophischen Schlacht sind es oft genug nicht die mit Pike und Schwert Bewaffneten, die den Sieg davontragen, sondern die lärmenden Trompeter und Trommler, die unbewaffneten Musikanten des Heeres.
Rationalismus und der Kampf um den Glauben
Die klassischen akademischen Tugenden prägten auch Hayeks Selbstverständnis als Wissenschaftler. „Was ich nicht weiß, behaupte ich nicht zu wissen“ ist seit Sokrates das Credo eines jeden redlichen Wissenschaftlers. Was Beckers lediglich auf den Begriff des “Antirationalismus” bringt, bezeichnete Hayek auch als kritischen Rationalismus – in Abgrenzung zum naiven Rationalismus. Damit steht er in einer Reihe von Denkern, die die rationalistischen Exzesse der Aufklärung kritisierten, wie Hume, Herder oder Popper. Sie alle wiesen auf die Gefahren hin, die mit dem Versuch einhergehen, ganze Gesellschaften auf dem Reißbrett zu planen. Dass sich diese Gefahren eines naiven Rationalismus auch durchaus realisieren können, sah man auf tragische Weise am Terreur der Französischen Revolution und den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.
Aber eine rationale Rationalismuskritik – das Erkennen der Grenzen der eigenen Erkenntnisfähigkeit – geht über den Anspruch dieser Feuilleton-Intellektuellen hinaus. So führen die selbst ernannten Antiliberalen auch vielmehr eine Auseinandersetzung um den richtigen Glauben. Beckers verspottet Liberale wiederholt für deren „Glauben an den Markt“ und setzt dem einen aus ihrer Sicht vorzugswürdigen Glauben an „den Staat“ oder „die Wissenschaft“ entgegen. Dass Vertrauen oder Misstrauen in soziale Institutionen wie Markt, staatliche Einrichtungen oder Wissenschaft, nichts mit Glauben zu tun haben sollte, sondern mit dem Verständnis für ihre Funktionsweisen, kann man übrigens ganz wunderbar dem Werk Hayeks entnehmen – wenn man es denn mit einem ehrlichen Erkenntnisstreben liest. Schließlich ist auch die Wissenschaft eine dezentrale Ordnung, in der die Wissenschaftler als autonome Akteure ihr Handeln durch wechselseitige Anpassungen koordinieren – ähnlich wie Unternehmer auf dem Markt.
Es würde jedenfalls uns allen – Liberalen und ihren Gegnern – guttun, wenn wir uns auf den Anspruch des “marktradikalen” Moralphilosophen Adam Smith zurückbesinnen, wonach es nicht darum gehen darf, bloß gelobt zu werden, sondern des Lobes auch tatsächlich würdig zu sein.