Noch vor kurzem war Krieg für mich nichts anderes als eine Abstraktion. Mir war immer bewusst, dass ich in einer Blase lebe. Schließlich leben wir im Informationszeitalter: Man bekommt Konflikte, Verbrechen und Auseinandersetzungen mit. Auch erlag ich als Osteuropäer niemals der Illusion eines friedlichen und modernen Russlands unter Putin: Ein Märchen an das nicht nur die „Linke“ und „AfD“ glaub(-ten?), sondern die Mehrheit der politischen Eliten und Gesellschaft in Deutschland.
Die Folge dieser Russlandromantik ist ein brutaler Krieg eines psychopathischen Diktators, der vermutlich die Hälfte seiner Bevölkerung tothungern würde, nur um seine Macht zu stärken und in die russischen (zensierten) Geschichtsbücher einzugehen.
Aber auch ein Krieg Deutschlands. In den Medien und sozialen Netzwerken fand die öffentliche Meinung schnell einen Schuldigen: Gerhard Schröder.
Es ist nicht mein Ziel ihn hier zu verteidigen. Seine Politik der Annäherung an Russland ist auch ein Grund für die vielen toten in ukrainischen Städten. Seine Freundschaft zu dem Diktator und Mörder Putin ist ekelhaft, sein Engagement für Gazprom beschämend und politisch-korrupt.
Merkels Rolle
Eine wesentlich bedeutendere Persönlichkeit ist aber Angela Merkel. Zwischen 2005 und 2021 stand sie als Bundeskanzlerin an der Spitze der Bundesregierung. Als Putin 2008 Georgien angriff und Teile des Landes annektierte war es Deutschland, das den Beitritt Georgiens und der Ukraine in die NATO verhinderte.
2011 wurde Nordstream 1 fertiggestellt und in Betrieb genommen. Dadurch vergrößerte sich die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Rohstoffen. Gleichzeitig verschlechterte sich die Situation Deutschlands östlicher Partner dramatisch, etwas wovor sowohl die Betroffenen, als auch die USA jahrelang warnten – Russland hatte nun einen Weg diese bei den Gaslieferungen zu umgehen.
Eine weiterer „Lichtblick“ in Merkels Politik erfolgte nach der Katastrophe in Fukushima. Um eine Niederlage in den Landtagswahlen in Baden-Württemberg abzuwenden, beschloß die mittlerweile seit 2005 zweite Regierung Merkels den Atomausstieg Deutschlands. In den nächsten Jahren wurden die Atomkraftwerke kontinuierlich nicht nur durch erneuerbare Energien, sondern auch durch Kohle und Gas ersetzt, zwei Rohstoffe, die Deutschland aus Russland bezieht.
Im Februar und März 2014 überfiel und annektierte Russland die ukrainische Krim. Gleichzeitig destabilisierte Russland die Ukraine weiter mit der Unterstützung der Warlords in Donetsk und Luhansk, die in den meisten Medien leider weiterhin als Rebellen bezeichnet werden. Dabei wurde im Juli desselben Jahres ein malaysisches Passagierflugzeug über dem Gebiet runtergeschossen. Die Ermittlungen ergaben, dass es sich um eine Buk-Rakete des russischen Militärs handelte.
Als Reaktion auf die Invasion der Russen wurden zwar ökonomische Sanktionen erlassen, die aber niemals eine wirkliche Wirkung entfalten konnten, denn die Energieversorgung, von der die Diktatur im Kreml lebt, wurde weitgehend verschont.
Als wäre bis dahin nichts passiert beschloss Deutschland unter Merkels und Putins Führung einen Ausbau der Pipeline: Nordstream 2. Experten und Politiker aus den USA, Polen und den baltischen Staaten kritisierten Deutschland scharf – mit den selben Argumenten wie schon bei Nordstream1, ohne Wirkung.
Am 12. Juli 2021 veröffentlichte Putin einen Aufsatz, in dem er die Staatlichkeit und Souveränität der Ukraine in Frage stellte. Etwas mehr als einen Monat später erklärte Angela Merkel Volodymyr Zelensky (einem Mann, der heute jeden Tag von den russischen Truppen ermordet werden könnte) und seinen Mitbürgern, dass Nordstream 2 keine politische Waffe sei.
Dabei sind dies nur die wichtigsten und offensichtlichsten Gründe, die Merkels Politik zu einem Schandfleck innerhalb der deutschen Geschichte des 21. Jahrhunderts machen. Unvergessen ist Putins jahrelanges Vorgehen gegen diejenigen, die seine Macht bedrohten. Haben wir etwa die Ermordung von Boris Nemtsov 2015 vergessen? Das Einsperren von Alexey Navalny 2021, nachdem der Mordversuch 2020 schiefgelaufen ist?
Was nun?
Angesichts des Angriffs auf die Ukraine gilt es vor allem, aus der vorangegangenen Politik zu lernen und nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen.
Viele Menschen flüchten aus der Ukraine in Richtung Polen, Slowakei, Rumänien, Ungarn und Moldawien. Die dortigen Zivilgesellschaften reagieren vorbildlich: Privatpersonen, Stiftungen und Unternehmen sorgen für Hilfe, medizinische Versorgung und Verpflegung. Trotz russischer Propagandaversuche, die Bevölkerungen gegen die Flüchtlinge auszuspielen, zu beobachten besonders in Polen, reagieren die Menschen geschlossen und solidarisch.
Es wird geschätzt, dass etwa 2,2 Millionen ukrainische Flüchtlinge europäische Länder erreichen werden. Möglicherweise werden es mehr. Auch wenn vor allem die angrenzenden Staaten den Löwenanteil der Aufgabe übernehmen müssen, steht Deutschland besonders aufgrund seiner historischen Verantwortung in der Pflicht.
In einem Beitrag der Bundesregierung in den sozialen Medien heißt es, dass Menschen, die ohne Visum für einen Kurzaufenthalt von 90 Tagen eingereist sind, einen Antrag stellen können, um diesen um weitere 3 Monate zu verlängern. Dies ist nicht genug. Gerade die Menschen, die vor einem Krieg flüchten, für den Deutschland bestenfalls als „nützlicher Idiot“ mitverantwortlich ist, verdienen eine Chance, mehr Sicherheit und Stabilität in unserem Land zu finden.
Es ist deshalb erfreulich zu hören, dass auf europäischer Ebene bereits über ein zweijähriges Aufenthaltsrecht einschließlich einer Arbeitserlaubnis gesprochen wird: Das ist ein sehr guter Anfang.
Auch falls die Ukraine durch ihre mutige Bevölkerung, die für Freiheit und Selbstbestimmung kämpft, der Invasion standhalten sollte, wird das Land nach dem Krieg verwüstet sein und ökonomisch am Boden liegen. Es wäre eine Schande, diese Menschen, die in ihrem Land wortwörtlich auf verbrannte Erde stoßen würden, direkt aus Deutschland auszuladen. Sicherlich werden auch diejenigen, die sofort zurückkehren wollen, um ihr Land wieder aufzubauen, von den finanziellen Ressourcen und dem know how profitieren, welche sie sich in ihrer Zeit hier aneignen konnten. Durch die Erfahrungen, die sie in Deutschland sammeln würden, wären diese Menschen ein großes Asset für die wiederaufstehende ukrainische Wirtschaft.
Auch der EU-Beitritt, über den heute schon gesprochen wird, oder der NATO-Beitritt können wichtige Bausteine sein, das Land wieder zu stabilisieren und nicht nur auf Kurs Richtung Frieden, sondern auch Richtung Wohlstand zu bringen. Aufbauhilfen und eine bessere Zusammenarbeit mit der Ukraine werden Ergebnisse bringen. Eine der ökonomisch effektivsten Methoden der Armutsbekämpfung sind aber Direkttransfers, die so häufig von Migranten zu ihren Familien vor Ort fließen. Diese erreichen unmittelbar diejenigen, die die Mittel am dringendsten brauchen und am besten wissen, wie sie sie verwenden sollten – und das ohne große Kosten.
Wenn wir das ermöglichen wollen, reichen keine Kurzaufenthalte. Es reichen keine Anträge auf Verlängerung. Die ukrainischen Flüchtlinge sollten, anders als es 2015 mit den Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Irak passiert ist, direkt in den Arbeitsmarkt integriert werden. Sie sollten umgehend eine Arbeitserlaubnis erhalten, um für sich selbst sorgen zu können. Viele von ihnen sind bis vor zwei Wochen Berufen auf einem Niveau nachgegangen, das dem in Deutschland üblichen in nichts nachsteht. Natürlich hat gerade unter jungen Menschen der Anteil derer, die Englisch oder sogar Deutsch sprechen, in den letzten Jahren signifikant zugenommen, was eine Integration in den Arbeitsmarkt deutlich erleichtert.
Gerade durch eine rasche Einbindung in den hiesigen Arbeitsmarkt entstehen weniger Kosten für Deutschland. Durch ihre Arbeitskraft und ihre andere Sicht auf die Welt könnten die Ukrainer nicht nur bei vielen Problemen, wie dem Fachkräftemangel und der demographischen Herausforderung helfen. Es ist klar, dass sie das Problem nicht umfassend lösen können: Aber wie so häufig in der Politik, sollte man langfristig denken. Bei einer optimalen Lösung würden auch nach dem Krieg Menschen aus der Ukraine nach Deutschland kommen dürfen. Die Kinder, die heute vor dem Krieg fliehen, würden deutsche Schulen besuchen und sich höchstwahrscheinlich für die weitere Ausbildung in Deutschland entscheiden. Aber selbst die Kriegsflüchtlinge würden die Wirtschaft Deutschlands schon langfristig verändern und durch andere Vorgehens- und Denkweisen antreiben. Die Ukraine hatte vor dem Krieg eine spannende StartUp-Szene, gerade im Tech- und Dienstleistungsbereich. Diejenigen, die heute aus dem Land fliehen, sollten ihren unternehmerischen Geist nicht an der Grenze zu Deutschland abgeben müssen. Sie sollten die Möglichkeit haben, ihre Projekte weiterzuführen. Es kommen nicht „nur“ Arbeitnehmer – auch im Bereich des Unternehmertums ergeben sich viele Chancen. Wenn wir diese zulassen.
Man muss diese Menschen nicht in Lagern und Flüchtlingszentren versauern lassen. Man muss keine „Parallelgesellschaften“ erschaffen. Um ihnen eine faire Chance zu geben, müssen wir ihnen die Möglichkeit bieten, sich zu entfalten und in die Gesellschaft zu integrieren. Dies ist ohne eine langfristige Arbeitsmöglichkeit nicht möglich.
Wenn wir ihnen auch langfristig die Möglichkeit geben, zu bleiben, um in Deutschland ihr Geld zu verdienen, werden sie genau wie zuvor die türkischen, italienischen oder polnischen Migranten zu einem wichtigen Teil unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Eine Situation, von der alle profitieren würden.
Geben wir den Ukrainern eine Chance. Sie sind keine Belastung, sie werden uns helfen. Sie werden uns stolz machen.
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