Nehmen wir an, Du hast ein bisschen Geld am Ende des Monats übrig, weil Du es von Deiner Oma geschenkt bekommen hast oder ein Urlaub günstiger war als geplant. Eventuell hast Du auch einen Coronabonus für Deinen Bürojob bekommen, der weder von Kurzarbeit, einer möglichen Kündigung oder anderweitig durch die Pandemie negativ beeinflusst war. Du entschließt Dich, 100 Euro von diesem Geld zu spenden, sei es, weil Du einfach einen guten Tag hattest und jemand anderem etwas Gutes tun möchtest, oder weil Dir bewusst ist, dass Du als Bewohner einer westlichen Industrienation zu den wohlhabendsten Erdenbewohnern gehörst oder gehören wirst.
Du möchtest Dich also altruistisch betätigen und den Betrag spenden. Aber wohin? Als Tierliebhaber könntest Du das lokale Tierheim unterstützen. Oder Du könntest das Geld an den klammen Musikverein Deiner Schwester überweisen. Wie wäre es, das Geld dem obdachlosen Mann zu geben, an dem Du jeden Tag auf dem Weg zur Uni vorbeikommst? Du könntest aber auch CO2-Zertifikate kaufen und sie wegwerfen, um etwas gegen den Klimawandel zu tun. Doch was wäre aus Deiner Sicht die sinnvollste Alternative? Wie könntest Du möglichst viel Gutes mit Deinem Geld bewerkstelligen? Wie wäre Menschen, Tieren oder dem Klima am besten geholfen?
Seit etwas mehr als zehn Jahren versucht eine soziale und philosophische Bewegung, solch schwierige Fragen und Abwägungen evidenzbasiert und anhand rationaler Argumentation zu beantworten: der Effektive Altruismus. Rund um Philosophen und Ethiker wie Peter Singer oder William MacAskill (Doing Good Better: How Effective Altruism Can Help You Make a Difference) hat sich die Idee verbreitet, dass altruistische Tätigkeiten dahingehend bewertet und priorisiert werden sollten, wie sie möglichst viel Gutes tun in Bereichen, die einer besonderen Dringlichkeit unterliegen, messbar und lösbar sind. Hierbei stehen insbesondere globale Armut, die Verringerung von Tierleid oder der Klimawandel im Fokus. Auch Themen, die weit in die Zukunft reichen, wie mögliche Bedrohungen durch „gefährliche“ künstliche Intelligenz (sog. „Longtermism“), werden adressiert. Möchtest Du beispielsweise Bildung von Kindern in Ländern mit extremer Armut unterstützen, da Du davon überzeugt bist, dass Bildung der beste Weg zur Verbesserung der Lage armer Menschen ist? Dann sind Wurmbehandlungen eventuell der bessere Weg hierzu im Vergleich zu Buchspenden oder leistungsabhängigen Stipendien, da sie deutlich kosteneffizienter dafür sorgen, dass mehr Kinder eine Schule besuchen können. Dir ist es wichtig, dass Menschen, die von Hunger und Krankheit bedroht sind, eine finanzielle Unterstützung bekommen? Dann sind direkte Spenden vermutlich eine bessere Unterstützung als der Kauf von Produkten mit Fairtrade-Siegel.
Organisationen, die versuchen, Altruismus möglichst effektiv zu gestalten, legen einen Schwerpunkt auf die Bewertung einer Kosten-Nutzen-Analyse mit Blick auf Spendentätigkeiten. Mit jedem ausgegebenen Euro soll ein möglichst hoher Nutzen verbunden sein. Es geht somit darum, Organisationen und Zwecke ausfindig zu machen, durch die bspw. so vielen Menschen in Not geholfen oder so viel Tierleid wie möglich vermieden werden kann. Die britische Organisation GiveWell führt hierfür jährlich ein Rating durch, um die besten Spendenorganisationen zu bewerten. Typische Zwecke sind dabei die Bekämpfung von Malaria durch Netze oder Medizin. Hierbei werden das Malaria Consortium oder die Against Malaria Foundation empfohlen. GiveWell gibt an, dass bereits mit kleinen Beträgen wie fünf Dollar ein Malarianetz gekauft und damit ein Unterschied erreicht werden kann. Hochgerechnet lässt sich hierbei den Angaben zufolge durchschnittlich ein Menschenleben bereits mit einem Betrag von 4.500 Dollar retten! Noch besser sieht es bei der Unterstützung via Vitamin-A-Ergänzungsmitteln aus, wovon ein Präparat nur ungefähr einen Dollar kostet. Hier wird von einer geschätzten, durchschnittlichen Kosteneffektivität von 3.000 Dollar pro gerettetem Leben ausgegangen. Das heißt, dass mit 3.000 Dollar so viele Ergänzungsmittel bezahlt werden können, dass im Schnitt ein Verlust eines Menschenlebens durch Vitamin-A-Mangel verhindert werden kann. Damit zeigt sich, dass man selbst durch kleine Beträge bereits einen positiven Einfluss nehmen kann. Die 100 Euro im Beispiel zu Beginn würden damit schon 100 Präparate finanzieren können oder das Äquivalent von zwei bis drei Lebensjahren eines Menschen retten!
Liegt Dein Interesse mehr beim Tierschutz, dann wird u. a. die Humane League empfohlen. Diese setzt sich durch gezielte Kampagnen dafür ein, dass Unternehmen ihre Tierwohlstandards erhöhen, um Tiermissbrauch zu verringern. Ein weiteres Feld, für das sich Effektive Altruisten stark machen, ist die Entwicklung von Fleischersatzprodukten: Dies verringert sowohl Tierleid als auch den Einfluss auf den Klimawandel durch die Lebensmittelindustrie. Hierbei fördert etwa das Good Food Institute die Entwicklung von wettbewerbsfähigen Alternativen zu Fleischprodukten. Andere Wege, um den Klimawandel zu bekämpfen, lassen sich durch die Entwicklung innovativer Technologien erreichen: durch eine Reduktion von Treibhausgasemissionen über Spenden an die deutsche Organisation Future Cleantech Architects oder durch Entzug von CO2 aus der Atmosphäre über die Organisation Carbon180. Dies stellt bspw. auch einen deutlich effizienteren Weg dar, als etwa CO2-Kompensationen für Flugreisen zu bezahlen.
Die eingangs erwähnten 100 Euro können somit einen wirklichen, empirisch belegbar positiven Einfluss haben, wenn man darauf achtet, wofür und an wen sie gespendet werden. In Deutschland kann man an effektiv-spenden.org spenden, wenn man effektiv-altruistische Organisation unterstützen möchte. Der positive Effekt kann sich bis zu einem Faktor von 100 unterscheiden, abhängig vom Zweck und von der Organisation, an die Du spendest. Viele Effektive Altruisten gehen sogar noch weiter. Mitglieder der Organisation Giving What We Can versprechen, mindestens zehn Prozent ihres Einkommens ein Leben lang an effektiv-altruistische Organisationen zu spenden. Die Organisation verfügt mittlerweile über mehr als 8000 Mitglieder (inkl. dem Autor dieses Artikels), darunter prominente Vertreter wie den Philosophen Derek Parfit oder den Neurowissenschaftler und Podcaster Sam Harris. Einige Effektive Altruisten gehen sogar so weit, ihre eigene Berufswahl möglichst effizient auszurichten. Die Organisation 80,000 Hours untersucht, welche Berufe den höchsten sozialen Nutzen haben und welche Karrieren sich als besonders effektiv mit Blick auf eine altruistische Absicht bewähren. Interessant ist hierbei, dass sich ein Beruf mit einem hohen Einkommen, bspw. im Finanzwesen, als effektiver erweisen kann als der eines Arztes. Der Arzt ist zwar als sozial sehr hilfreich angesehen, „nutzt“ aber nur so viel wie die Differenz zwischen eigener Leistung und der des nächstbesten Kandidaten. Derjenige mit einem weniger sozial ausgerichteten, aber hochbezahlten Beruf, der einen hohen Anteil seines Gehalts spendet, kann womöglich dadurch viel mehr Menschen durch effektive Spenden helfen. Hier muss man aber gar nicht zwingend einen Widerspruch sehen: Auch ein Arzt kann neben seinem Beruf effektiv-altruistisch spenden und so seiner altruistischen Neigung auf verschiedenen Wegen dienen.
Kritisiert wird am Ansatz des Effektiven Altruismus u. a., dass ein Maßstab zur Messbarkeit des Nutzens von verschiedenen Zwecken schwierig zu ermitteln sein kann. Lassen sich Leben aufwiegen und Krankheiten oder Tier- und Menschenleid miteinander vergleichen? Lässt sich ein intersubjektiver Nutzenvergleich erbringen? Wie lassen sich komplexe Zwecke bewerten, deren Nutzen nicht direkt messbar ist, wie der Kampf um die besseren Ideen? Auch angesichts akuter, emotional aufwühlender Themen wie Naturkatastrophen oder Kriegen stellt sich die Frage, wie Menschen in Not am besten geholfen werden kann. Oft wird hierbei auf Sachspenden gesetzt, die allerdings deutlich komplexer einsetzbar und gegebenenfalls wenig an den tatsächlichen, lokalen Anforderungen ausgerichtet sind. Aktuell zeigt sich das bei der Hilfsbereitschaft im Ukraine-Krieg. Nutzt es mehr, Kleiderspenden an die polnische Grenze zu schicken, oder sollten Spendenorganisationen, die sich besser mit den spezifischen Bedürfnissen auskennen, eher mit flexibel einsetzbarem Geld unterstützt werden? Eventuell kann man auch am besten direkt konkrete Hilfe leisten, indem man Geflüchteten durch Beherbergung hilft. Ob solche Formen der akuten Katastrophenhilfe allerdings mit Prinzipien des Effektiven Altruismus vereinbar sind, ist diskutabel.
Es bleibt selbstverständlich immer die Möglichkeit, sich vielfältig zu engagieren: Einen Teil kann man effektiv spenden, einen anderen Teil aber dennoch (weniger effektiv) dem lokalen Waisenheim zukommen lassen. Eine entsprechende Abwägung bleibt immer dem Einzelnen überlassen. Der Effektive Altruismus mag nicht sämtliche Probleme der Welt lösen können, doch hat er dies auch nicht zum Ziel. Kernidee ist es, mit dem Wissen, das vorhanden oder erforschbar ist, anhand von Evidenz und rationaler Abwägung solche Zwecke zu unterstützen, die nachweisbar effektiv Hilfe leisten, im Glauben, die Welt zu einem besseren Ort machen zu können. Der britische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer hat dies in seinen “Principles of Ethics“ (1897) wie folgt formuliert: „Die Erfahrung zeigt, dass Menschen starkes Interesse an der Verfolgung völlig uneigennütziger Ziele herausbilden können; und im Laufe der Zeit wird es immer mehr Menschen geben, deren uneigennütziges Ziel die weitere Entwicklung der Menschheit sein wird. Während sie von den Anhöhen ihres Geistes aus jene Zukunft betrachten, die nur von einer fernen Nachwelt genossen werden wird, überkommt sie ein wohltuendes Gefühl der Zufriedenheit in dem Bewusstsein, diesen Fortschritt unterstützt zu haben.“