Sind Traditionen unnützer Ballast, den wir alsbald abwerfen sollten? Nein, Traditionen sind unerlässlich, um die Errungenschaften unserer Gesellschaft aufrechtzuerhalten und weiterhin Fortschritt zu gewährleisten.
Welche Rolle spielen Traditionen in unserer modernen Gesellschaft? Im Zeitalter des technologischen Fortschrittes und der Vernunft könnte man denken, dass Traditionen nur unnötiger Aberglaube sind, der unseren Fortschritt verhindert. Es sind eher Konservative, die Traditionen wertschätzen. Letztendlich hat ja das Wort Konservatismus seinen Ursprung im lateinischen conservare – oder auf Deutsch: bewahren. Anders der Liberalismus, die Ideologie einer Gesellschaft, die sich ständig fortentwickelt und erneuert – die nie stillsteht. Der Liberalismus ist keine politische Ideologie, die die Vergangenheit verehrt, sondern eine, die zukunftsorientiert ist. Ja, der Liberale strebt nach Fortschritt. Jedoch sollten Liberalen auch verstehen, dass stabiler Fortschritt nur mit Rücksicht auf die bestehenden Institutionen und Traditionen der Gesellschaft entstehen kann. Ansonsten gefährdet der Fortschritt unsere Gesellschaft: die Falle des konstruktivistischen Rationalismus.
Mit konstruktivistischem Rationalismus meinte der Ökonom, Sozialphilosoph und Nobelpreisträger Friedrich von Hayek, eine Position, die behauptet, dass allein die Vernunft des Menschen ausreicht, um die Gesellschaft neu zu gestalten. Traditionen und Institutionen, die sich nicht alleine aus der Raison ableiten lassen, besäßen keine Existenzberechtigung – jede Institution solle allein durch rationale Begründung gerechtfertigt werden. Ein Beispiel dieses konstruktivistischen Rationalismus sind die Intellektuellen der französischen Aufklärung. Diese behaupteten, dass eine kleine Gruppe von Individuen die menschlichen Institutionen von Grund auf neu erdenken könne. So sagte Voltaire: „Verbrennt eure Gesetze und macht deren neue! Woher die neuen nehmen? Aus der Vernunft!“ Die Französische Revolution versuchte sich komplett von den alten Strukturen ihrer Gesellschaft zu befreien, die Grundsteine zu verändern – dies gelang den Revolutionären aber nicht gänzlich. Der französische Historiker und Politikwissenschaftler Alexis de Tocqueville beschrieb, dass die Revolution die gleichen Verbrechen des alten Regimes wiederholte, nur diesmal unter dem Deckmantel der Gleichheit. Nach zehn Jahren endete die Revolution mit dem Aufstieg Bonapartes. Die Französische Revolution hat – ohne Diskussion – viele positive Veränderungen gebracht, die später zum Vorbild vieler wurden. Jedoch wurde auch klar, dass menschliche Institutionen zu komplex sind, um sie gleichsam aus dem Nichts neu zu erfinden; eine Position, die Tocqueville mit dem britischen Staatsphilosophen Edmund Burke teilte.
Aber warum lassen sich menschliche Institutionen nicht allein durch menschliche Vernunft kreieren? Und, vor allem, welche Rolle spielen hier Traditionen? Warum können wir nicht einfach ein leeres Blatt Papier nehmen und uns die perfekte Gesellschaft von Grund auf ausdenken und dann verwirklichen? Nun, es geht hauptsächlich um Informationen und ihren Austausch. Dabei reicht es nicht mal, die nötigen Informationen zu besitzen. Man muss sie auch verstehen – es geht um Wissen. Also, um Institutionen neu zu gestalten brauchen wir zuerst Informationen. Zentrale Planung scheint dann nur möglich, wenn wir uns im kleinen Rahmen bewegen, Universitäten und Schule sind Beispiele dafür. Aber je komplexer unser Gegenstand wird, desto schwieriger ist es, alle nötigen Informationen zu besitzen. Und eine Gesellschaft ist nun gerade von der höchsten Komplexität, die wir uns vorstellen können – anders als Organisationen wie Schulen. Daher ist es hier einem Einzelnen nicht möglich, die notwendigen Informationen zu sammeln und danach die Institutionen der Gesellschaft zu planen. Dementsprechend sind viele unserer gesellschaftlichen Institutionen nicht das Ergebnis von zentraler Planung, sondern das Produkt der Handlungen einer Vielzahl von Individuen, die kein einheitliches Ziel anstrebten. Es sind diese kooperativen Handlungen, mit denen Informationen übertragen und Wissen genutzt wird; Wissen, das oft implizit ist und daher nur vom Träger gebraucht werden kann. Dezentraler Austausch kann daher in vielen Situationen effektiver verteiltes Wissen nutzen als zentrale Planung.
Je mehr Informationen wir besitzen, austauschen und nutzen, desto besser können wir unsere Institutionen verbessern und anpassen. Hier spielt Tradition eine wichtige Rolle. Denn Tradition ist keine Momentaufnahme. Sie ist das Ergebnis der Interaktionen zwischen Individuen, nicht nur im Jetzt, sondern auch aus der Vergangenheit – also das Ergebnis von akkumuliertem Wissen. Im Laufe der Geschichte nahmen Institutionen unterschiedliche Formen an; sie sind durch einen Trial-and-Error-Prozess über mehrere Generationen hinweg entstanden. Jene Institutionen, deren Gruppen erfolgreicher waren, setzten sich langfristig durch und verbreiteten sich. Sie sind also nicht das Ergebnis der Überlegungen eines einzelnen Individuums (so wie die Rationalisten vermuten), sondern das Resultat der Beiträge Tausender Individuen, von denen ein jeder das seine zu diesem Prozess des Informationsaustausches sowie der Selektion beigesteuert hat. Würden wir auf das akkumulierte Wissen von mehreren Generationen verzichten, dann müssten wir immer von neu anfangen in der Suche nach den besten Alternativen. Unsere Institutionen beruhen daher auf Traditionen, sie entstehen daraus.
Kein Individuum kann Institutionen, die sich im Laufe der Geschichte in einem evolutionären Prozess herausgebildet haben, von Grund auf neu erdenken. Dies würde erfordern, dass ein einzelnes Individuum das Wissen aller relevanten Fakten und möglichen Ergebnisse besitzt, die im Laufe der Geschichte zur Herausbildung der betreffenden Institution geführt haben – und das ist unmöglich. Zum Beispiel das Recht, die Moral, das Geld und der Markt sind Institutionen, die nicht in jeder Generation neu gedacht werden, sondern in einem evolutionären Prozess entstanden. Eine bewusste Planung der Gesellschaft scheitert allein daran, dass jedes Mitglied der Gesellschaft nur einen Bruchteil des Wissens hat über jene Tatsachen, die die Gesellschaft funktionieren lassen – und jenes Wissen, das es besitzt, ist häufig implizit und kann gar nicht anderen kommuniziert werden. Weil jedes Individuum nur einen Bruchteil dieses Wissens, das teilweise unartikulierbar ist, besitzt, sind all die Faktoren, die die Entstehung von Institutionen ermöglichen, in ihrer Gesamtheit unbekannt.
Unsere heutigen Institutionen sind nicht perfekt, aber sie bieten für den Fortschritt der Gesellschaft die bestmöglichen Rahmenbedingungen. Um eine freiere Gesellschaft zu erreichen, dürfen Liberalen daher nicht in der Falle des konstruktivistischen Rationalismus fallen, sondern müssen das in Traditionen und Institutionen innewohnende Wissen aus den alten Generationen beachten und Fortschritt innerhalb dieser Rahmenbedingungen anstreben.
Traditionen haben eine Daseinsberechtigung, die sich nicht rational ableiten lässt. Sie bilden dennoch die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft. Unsere Institutionen „[…] wurden nicht errichtet, weil die Menschen das Gute, das sie bringen würden, vorausgesehen haben […] [sie sind] nicht das Produkt einer planenden menschlichen Vernunft […] [, sondern das] Ergebnis anpassender Entwicklung“, schrieb Hayek in Die Verfassung der Freiheit. Unsere Bestrebungen eine freiere Welt zu erreichen, sollten daher nicht unsere Traditionen ignorieren. Traditionen bieten uns die Spielregeln innerhalb derer wir die Institutionen der Freiheit vervollkommnen, ausdehnen und, selbstverständlich, verbessern können.
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