Im Internet haben heutzutage einige wenige Unternehmen starke Machtstellungen inne. Eine mögliche Antwort hierauf könnte Interoperabilität sein, meint Alexandre Kintzinger.
Freier Wettbewerb durch Markteintritte von Konkurrenten scheint im Internet durch die üblichen Verdächtigen Google, Facebook, Amazon & Co. ausgebremst zu werden. Zudem wird ihnen vorgeworfen „Datenkraken“ zu sein, welche uns im Tausch gegen unsere Daten einen Service bieten, dies jedoch unter Inkaufnahme unserer Bindung an ein Unternehmen und der Beschränkung unserer Freiheit als Konsumenten. Als Heilmittel dagegen wird Interoperabilität angepriesen, welche eine Alternative zu gängigen regulatorischen Eingriffe darstellen soll.
Marktkonzentration und fehlender Schutz von Nutzerdaten wie der Privatsphäre von Konsumenten mobilisierte in den USA beide großen Parteien zu «Anti-Trust»-Maßnahmen gegen den «Big Tech»-Sektor („The Bipartisan Antitrust Crusade Against Big Tech“). Auch die EU hat die großen Tech-Konzerne im Visier (Stolton, „EU SMEs in Bid for Greater Interoperability in Digital Markets Act“). Dabei wird Interoperabilität als Schlüssel für fairere Wettbewerbsbedingungen aufgeführt. Mehr Wettbewerb und Konsumentenfreiheit sowie der Schutz der Privatsphäre ist aus liberaler Sicht begrüßenswert. Kritisch sollte dennoch betrachtet werden, welche Risiken bestehen und inwiefern das Eingreifen des Gesetzgebers für Interoperabilität notwendig ist.
Zunächst gilt zu verstehen, was Interoperabilität bedeutet und wie diese eingesetzt werden kann, um mehr Wettbewerb in der Tech-Branche zu garantieren. Und zudem die Frage wie uns als Konsumenten mehr Freiheiten gegeben werden können, betreffend der Auswahl wie auch dem Wechsel zwischen verschiedenen elektronischen Dienstleistungen? Dazu hat die „Electronic Frontier Foundation“ (EFF) ein ausführliches Paper unter dem Namen „Privacy Without Monopoly: Data Protection and Interoperabiity“ (Cyphers und Doctorow) veröffentlicht. EFF zählt zu den führenden US-amerikanischen NGOs, welche sich seit mittlerweile mehr als 30 Jahren für Innovation, Freie Rede, den Schutz der digitalen Privatsphäre und allgemein für Grundrechte in Netz einsetzt. Die EFF vertritt in diesem Paper die Vision von einem Internet, in dem ein Zusammenspiel aus Interoperabilität und Datenschutz stattfindet. Zudem möchte die EFF eine Alternative zu den Stimmen sein, welche die „Big Tech“-Konzerne Facebook, Apple, Google und Co. nur durch Datenschutzgesetze regulieren möchten, ohne deren Monopol auf unser Daten anzutasten. Die EFF befürchtet, dass durch Regulierungen dieser Art der Staat seine Einflusssphäre im Netz erweitern wird. Für die EFF schließen sich nämlich freier Wettbewerb und Datenschutz nicht aus.
Laut der NGO waren die großen Technologieunternehmen noch nie gut darin, sensible Nutzerdaten zu schützen, und die reformierten Gesetze im Bereich Datenschutz erwiesen sich als wenig ausreichend. Die EFF möchte den Usern mehr Konsumentenfreiheit wiedergeben, damit diese etablierte Unternehmen unter Druck setzen können. Dazu sollte es neuen Markteilnehmern ermöglicht werden, leichter datenschutzfreundliche Alternativen zu entwickeln. Dadurch soll eine Konkurrenz gegenüber den etablierten Markteilnehmer entstehen, zu denen jederzeit deren Kunden abwandern können, etwas was innerhalb eines freien Marktes stets garantiert sein sollte.
Urs Gasser, Leiter vom Berkman Klein Center for Internet & Society der Harvard University, bezeichnet Interoperabilität als die Fähigkeit, nützliche Daten und andere Informationen über Systeme, Applikationen oder andere Komponenten hinweg zu übermitteln und darzustellen („Interoperability in the Digital Ecosystem“) Bei der Interoperabilität geht es also darum, bei verschiedenen Systemen oder digitalen Infrastrukturen die gegenseitige Kompatibilität zu gewährleisten, damit diese miteinander gegenseitig interagieren können. Für eine zukünftige Interoperabilität Strategie hat die EFF vier grundlegende Empfehlungen.
Der erste Vorschlag umfasst die wettbewerbsorientierte Kompatibilität (Competitive compatibility). Diese soll es kreativen Entwicklern und innovativen Start-ups ermöglichen, mit den Dienstleistungen der etablierten Tech-Unternehmen ohne deren Zustimmung zu interoperieren. Die rechtlichen Instrumente, welche die Big-Tech Unternehmen einsetzen, um anderen Markteilnehmern die Interaktionen mit ihren Diensten zu unterbinden, werden abgeschafft. Die EFF schlägt zudem vor, dass der Staat neben dem Maßnahmen zu Deregulierung von Gesetzen, welche die Interoperabilität einschränken, diese auch aktiv fördern kann. Ein gesetzlicher Rahmen auf Basis der Open-Source-Definition könnte neuen Markteilnehmern, die interoperable Dienste anbieten, Rechtssicherheit, unkomplizierte Bürokratie und innovationsfreundliche Standards bieten. Andererseits besteht für die Marktteilnehmer die Möglichkeit, sich über freiwillige Übereinkünfte in Normungsgremien, oder in akademischen Forschungskonsortien an gegenseitige Fairplay-Standards zu binden.
Der zweite Vorschlag umfasst die Datenübertragbarkeit (Data portability). Unternehmen würden hierbei dazu verpflichtet, einen Mindeststandard für den Interoperabilitätszugang zu ihren Systemen und Diensten bereitzustellen. User bekommen dadurch das Recht, frei über ihre eigenen Daten zu verfügen und sie jederzeit von den Unternehmen, wo die Daten gespeichert sind, zu transferieren.
Die dritte Empfehlung ist die Back-end-Interoperabilität (Back-end interoperability). Dabei würde von den marktdominierenden Tech-Plattformen verlangt werden, dass sie Benutzerschnittstellen garantieren, die ihren Kunden die reibungslose Interaktion mit Usern anderer konkurrierender Dienste ermöglicht. Die EFF erkennt an, dass die Back-end- Interoperabilität für Unternehmen, welche ihr unterliegen, sehr einschränkend wirken kann. Nur marktbeherrschende Akteure, welche sich die Kosten für die Einhaltung der Vorschriften leisten können, sollten davon daher betroffen sein. Die NGO rät zudem von übermäßigen Vorschriften durch den Gesetzgeber ab, denn solange Tech-Plattformen Tools entwickeln, welche die gewünschten Datenflüsse ermöglichen und Schutzmaßnahmen für die Privatsphäre der User garantiert sind, solange sollte es keinen etwas angehen, wie dies ermöglicht wird. Weiterhin sollte den Unternehmen ein möglichst ausgedehnter Raum für zukünftige Innovationen und Optimierung geboten werden.
Als vierter Vorschlag empfiehlt die EFF Delegierbarkeit (delegability). Hierbei würde von den großen Tech-Unternehmen verlangt werden, Programmschnittstellen zu kreieren, welche es der Software von dritten Marktteilnehmern ermöglicht, mit deren Diensten, im Namen eines Users, zu interagieren. Delegierbarkeit könnte Raum für eine ganze Reihe neuer nutzerfreundlicher Applikationen schaffen, wie benutzerdefinierte Filter für Social-Media-Feeds, Tools für die Barrierefreiheit oder unabhängiges Management von Datenschutzeinstellungen. Für die EFF sind die Probleme der Unternehmenskonzentration und des Datenschutzes im Internet voneinander abhängig. Interoperabilität kann eine Möglichkeit sein, den Wettbewerb wiederzubeleben, Innovationen zu fördern und den Usern wieder mehr Selbstbestimmung über ihre digitalen Identitäten geben. Interoperabilität schafft dies durch neue Datenströme, welche den Tech-Plattformen einen Teil ihrer jetzigen Kontrolle über die Daten nimmt. Facebook und Google könnten gezwungen werden, Userdaten mit Unternehmen auszutauschen. Dies kann wiederum mit Bedingungen verbunden sein, wie gesetzliche Verpflichtungen in Form von Datenminimierung und informierter Einwilligung.
Den Stimmen gegen die Interoperabilität, welche argumentieren, dass die Tech-Unternehmen, die im Besitz von User-Daten sind, diese am besten schützen können, entgegnet die EFF, dass dem mit einem besseren Datenschutzrecht begegnet werden könnte. Der NGO widerstrebt zudem der Gedanke, dass wir als Konsumenten uns zum Schutz unserer Daten auf den guten Willen der Tech-Plattformen verlassen sollten. Die EFF ist daher davon überzeugt, dass Interoperabilität und andere dem Wettbewerb dienende Maßnahmen entscheidend sind, um plutokratische Einflüsse der Tech-Plattformen auf die Regierungen und die Politik zu unterbinden. In den Augen der EFF ist ein interoperables Internet innovativer, da es auf weniger Akteure konzentriert ist und somit die Rechte der User besser schützt.
Interoperabilität ohne Datenschutzverordnungen provoziert nach der EFF jedoch einen Wettbewerb danach, wer dem User die meisten Daten entlocken kann. Gesetzesinitiativen bezüglich Interoperabilität in den USA sowie in dem Vereinigten Königreich enthielten lediglich Überlegungen zum Datenschutz. Nur die EU verfügt über strenge Datenschutzverordnungen, die einen einheitlichen Standard für den Datenschutz schaffen, so der EFF. Interoperabilität benötigt jedoch nicht unbedingt ein staatliches Eingreifen. Dies zeigt z. B. das Engagement verschiedener großer Tech-Unternehmen beim Data Transfer Project („https:// datatransferproject.dev“), welches sich zum Ziel setzt, einen Open-Source-Standard für die Datenübertragbarkeit zu etablieren.
Die Skepsis, die Liberale bei staatlichen Eingriffen hegen, ist aus der Erfahrung her verständlich, sollte jedoch nicht zu einer dogmatischen Ablehnung führen. Vor allem nicht, wenn es darum geht, dem Einzelnen Freiheitsrechte zu gewähren. Wenn sich in einem Markt Strukturen entwickelt haben, die einen fairen, freien Markt aushebeln und die quasi den Charakter von staatlichen Institutionen einnehmen, jedoch ohne demokratische Kontrolle, kann diese Bedrohung der Freiheit nicht außer acht gelassen werden. Wenn diese privaten Institutionen uns ohne jegliche Barrieren ausspionieren und diese Informationen obendrauf noch mit staatlichen Geheimdiensten teilen, dann sollten bei jedem Liberalen die Alarmglocken läuten.
Falls Interoperabilität Eingriffe in den Markt erforderlich macht z.B. um regulatorische Schranken zu beseitigen oder um Standards beim Datenschutz zu garantieren, ist dies deshalb nicht per se abzulehnen. Zumindest eine offene Diskussion ist dann angebracht, welche sich, gemäss liberaler Grundwerte, vernünftig und rational mit den aktuellen Gegebenheiten der Realität auseinandersetzt. Liberalismus bedeutet eben halt nicht, alles was Unternehmen tun, in einem naiven und gutgläubigen Vertrauen in die Strukturen des Marktes, einfach hin zu nehmen. Viel zu oft werden diese Strukturen in einem Zusammenspiel von Markt und Staat gegen die Interessen der Mehrheit der einzelnen Akteure ausgehebelt. Ein Liberaler ist kein Lobbyist der lediglich den Interessen machthungriger Konzerne zu dienen hat. Die Feinde der Freiheit in unserer Gesellschaft verbergen sich nämlich oft hinter den unterschiedlichsten Gebilden.