Der Staat nervt. Wir zahlen Rundfunkgebühren, eine Menge Steuern und halten uns an die Maskenpflicht in der Bahn. Im Gegenzug läuft im Fernsehen Rosamunde Pilcher, unsere Steuergelder füttern ein riesiges Bürokratiemonster und die Bahn ist unpünktlicher denn je. Der Staat hat nicht nur bei der Farbe unserer Dachziegel oder der Höhe des Gartenzaunes ein Wörtchen mitzureden; natürlich braucht man auch eine Lizenz, um anderen die Haare schneiden zu dürfen. Ist der Staat zu mächtig geworden oder ist er wirklich so hilfsbereit und nützlich, wie er sich nach außen gibt?
Lange schien es in der Bundesrepublik so, als würde der Staat die Entwicklung im Land fördern. Die Wirtschaft wuchs beständig, Normalverdiener konnten sich noch Häuser leisten. Heute taumeln wir von Krise zu Krise. Die Wirtschaft stagniert, während gleichzeitig die Macht staatlicher Institutionen wächst. Nun bekommen wir die Schattenseiten eines starken Staates zu spüren und wie ein Bumerang treffen uns die Konsequenzen früherer Politik. Die expansive Geldpolitik der EZB trieb Immobilien- und Assetpreise in die Höhe, gleichzeitig führte die deutsche Russlandpolitik das Land in ein energiepolitisches Abhängigkeitsverhältnis. Die Coronakrise samt Lockdowns hat uns zudem gezeigt, wie schnell unsere Freiheit zum Spielball der Politik wird und wie abhängig wir dann vom Staat sind.
Mittlerweile scheint der Staat zu mächtig zu werden, uns immer mehr im Wege zu stehen. Immer weniger wirkt er wie der Wohltäter, der uns versprochen wurde. Und trotzdem: Es herrscht großer Konsens über die Notwendigkeit und Alternativlosigkeit des Staates. Warum eigentlich?
Die meisten Menschen sind davon überzeugt, dass wir Staaten brauchen, um unsere Konflikte zu lösen. Erst der Staat sorge für Stabilität und Ordnung. Wichtiger Vertreter dieser Position war der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588-1679). Er war der Meinung, im Grunde sei der Mensch schlecht und ohne Staat eine Gefahr für seine Mitmenschen. Hobbes drückte das so aus: Homo homini lupus oder der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
(Bild des Hobbes’schen Leviathan: Chris Tolworthy at @ Flickr CC by 2.0)
In diesem Sinne schrieb er auch: „[…] dass sich die Menschen, solange sie ohne eine öffentliche Macht sind, die sie alle in Schrecken hält, in jenem Zustand befinden, den man Krieg nennt, und zwar im Krieg eines jeden gegen jeden.“
Eine Schwäche hat diese Argumentation aber: Neigt der Mensch von Natur aus zu gewaltvollen Konflikten und kriegerischen Handlungen, dann müsste das genauso für die herrschenden Politiker und Staatsdiener gelten. Damit hätte man das Problem dann nicht gelöst, sondern lediglich verschoben. Diese Inkonsistenz löste man zu Hobbes‘ Zeiten noch durch die Annahme, Politiker wären in Weisheit und Moral dem normalen Bürger weit überlegen. Heute und in Angesicht der Verbrechen, die Staaten, besonders im vergangenen Jahrhundert begangen haben, lässt sich diese Position jedoch nicht mehr seriös vertreten. Keineswegs neigen Staaten zu weniger Gewalt und kriegerischen Handlungen als normale Bürger. Vielmehr konzentriert sich erst im Staat die Macht, die notwendig ist, um Menschen systematisch zu unterdrücken.
Hobbes sah den Bürger als einen gefährlichen Unhold, einen Wolf, der von einem gerechten und gütigen Staat in Schach gehalten werden muss. Mittlerweile sieht die Realität aber anders aus. Wir dürfen nicht vergessen, dass es die Staaten sind, die immer wieder unsägliches Leid über die Menschheit bringen. Von Zeit zu Zeit gelang es der Politik aber immer besser, diese Gewalt, das Unrecht und den Zwang hinter guten Intentionen zu verstecken. Dafür gibt es relstiv harmlose Beispiele: Lockdowns wurden zu „Schutzmaßnahmen“, Schulden zu „Sondervermögen“ oder Umverteilung zu „Entlastungsmaßnahmen“. Putin hingegen bezeichnet seinen Krieg als einen „Sondereinsatz“. Stalin nannte die Ermordung politischer Gegner eine „Säuberung“. Egal, hinter wie vielen wohlklingenden Euphemismen sich der Staat versteckt, er bleibt ein Wolf. Ein Wolf, dem es in der Geschichte viel zu oft gelungen ist, sich in einem Schafspelz zu tarnen.
Heutzutage müssen wir uns deshalb fragen, wie sinnvoll es ist, Hobbes und seine Argumentation als Rechtfertigung für einen starken Staat zu nutzen. Besonders weil der Mensch sich weiterentwickelt hat. Das Bild des jähzornigen, Konflikte schürenden Menschen ist vielerorts nicht mehr zeitgemäß. Ein Exkurs:
Vor einiger Zeit zog ich aus einer kleinen Gemeinde zum Studieren in die Großstadt, direkt an eine dicht befahrene Straße. In regelmäßigen Abständen fuhren Polizeiautos mit Sirene und Blaulicht vorbei und mir fiel auf: in meinen knapp 19 Jahren, die ich in einem ungefähr 5000 Einwohner großen Dorf lebte, erinnere ich mich an keine einzige Situation, in der ich ein Polizeiauto gesehen hatte. Auch ist mir kein Fall bekannt, in dem jemand bedroht, geschlagen, ausgeraubt oder anders geschädigt wurde. Die wildesten Auseinandersetzungen gab es bei uns auf dem Pausenhof; Angst nachts, alleine durch mien Dorf zu laufen hatte ich nur während Corona-Ausgangssperren, weil Streifen zum Kontrollieren durch die Straßen fuhren. In meiner Heimat ist die Welt also noch in Ordnung. Hier ist kein Mensch dem anderen ein Wolf.
Und mir scheint das nicht am Staat zu liegen. Für viel entscheidender halte ich dagegen Folgendes: Viele wohnen hier mit ihrer Familie in schönen Häusern und haben gepflegte Vorgärten. Sie haben eine ordentliche Bildung erfahren und einen Job, der sie erfüllt. Wer nun seinen Nachbarn erschlägt, weil dessen Hecke in den eigenen Garten hineinragt, setzt all das aufs Spiel. Die Meisten lösen solche Konflikte deswegen lieber friedlich. Während zu Hobbes‘ Zeiten Menschen durch Armut, Hunger und Perspektivlosigkeit in die Kriminalität getrieben wurden, haben besonders reiche Länder diese Probleme zu einem großen Teil gelöst. Mich stimmt das optimistisch, denn warum sollte es dann in Zukunft nicht möglich sein, an solchen Orten auf eine mächtige Ordnungsmacht zu verzichten? Anscheinend leben wir vielerorts nicht mehr in einem Hobbesschen Zeitalter, weil Bildung, Wirtschaftswachstum und ein höherer Lebensstandard uns zivilisierter gemacht haben.
Trotzdem sind die Menschen in meinem Dorf nicht weniger von der Notwendigkeit eines starken Staates überzeugt als andernorts. Wie überall wird der Staat als selbstverständlich und notwendig angesehen. Anstatt auf sich selbst, vertraut man lieber auf Gemeinschaft, auch weil Kollektivdenken und Tribalismus tief in der menschlichen Natur verwurzelt sind, während Individualismus und Eigenverantwortung sich noch beweisen müssen.
Versucht man, Leute im Gespräch von einer Gesellschaft ohne starken Staat zu überzeugen, stößt man deswegen oft auf taube Ohren. Das ist ärgerlich, aber überzeugen kann man über andere Wege. Zum Beispiel dann, wenn einer breiteren Öffentlichkeit klar wird, dass staatliche Lösungen mit Nachteilen behaftet sind.
So zum Beispiel beim Thema Geld: Unzählige Menschen müssen wegen Zentralbankentscheidungen mit hoher Inflation leben, in Kanada wurden Konten von Demonstranten eingefroren und in manchen Ländern verbietet der Staat Menschen den Zugang zu einem Bankkonto ganz. Weil der Staat hier versagt, entstand Bitcoin und lieferte eine dezentrale Lösung. Vorteil von solchen nicht-staatlichen Lösungen ist, dass niemand gezwungen wird, sie zu nutzen. Staatliche Lösungen dagegen haben den Nachteil, dass Politiker nicht die Leidtragenden ihrer Entscheidungen sind, während Unternehmen und Privatpersonen das Risiko für ihr Handeln tragen müssen. Ferner setzt sich im Markt auch nur durch, wer ein gutes Produkt anbietet, sich ständig verbessert und Menschen einen echten Mehrwert bietet. Für Politiker reicht es, die größere Macht hinter sich zu vereinen. Das führt nicht nur zu Ineffizienz, sondern auch zu Machtmissbrauch und Unrecht.
Ziel muss es deswegen sein, nicht-staatliche Lösungen einer großen Öffentlichkeit schmackhaft zu machen. Obwohl man beim Versuch Menschen, eine attraktive Alternative zu bieten, oft scheitern wird, können wir optimistisch in die Zukunft blicken: Wir müssen den Menschen nur ein besseres Angebot machen als der Staat und das erscheint mir weder unrealistisch noch utopisch.
1 Kommentare
Spannender Beitrag, vielen Dank!
Ich würde jedoch deiner Argumentation ein paar Sachen entgegenstellen, denn gerade über dieses Thema finde ich den Diskurs wichtig, du erwähnst ja sicherlich nicht ohne Grund, dass sich in deiner kleinen Gemeinde wenige mit dem Aspekt der Notwendigkeit auseinandersetzen.
Soziale Systeme, also Nationen, Staaten, Gesellschaft(en), Gruppen und Kollektive gibt es seit geraumer Zeit, wenn man es ein wenig überspitzt lassen sich die ersten proto-staatlichen Gemeinschaften schon um etwa 3.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung finden. Den Staat nach heutigem Konzept spiegelten diese Gemeinschaften dennoch nicht wider, jedoch zeigt sich die Tendenz dazu, dass sich Menschen zusammenschließen. Gemeinschaften werden schlussendlich zu modernen Territorialstaaten, indem diese drei Bedingungen erfüllen: die Konzentration des Landbesitzes, die Unabhängigkeit des Städtenetzes und die Vereinheitlichung der territorialen Sprache(n).
Worauf ich hinaus möchte ist, dass nach deiner Idee, den Staat „herauszunehmen“, diese drei Variablen nicht mehr mit Sicherheit gewährleistet werden können. Wir sehen an Staaten, diese nicht mehr die Möglichkeit haben Politik zu betreiben, was sich, nach meinem Verständnis, als macht-basiertes Handeln orientiert an Herrschaft verstehen lässt, Probleme haben auf der globalen Ebene effektiv zu handeln. Staaten, welche innerlich die Sicherheit nicht mehr wahren können, verlieren Stabilität. In unsere stark globalisierten Welt kann es sich ein moderner Staat nicht leisten zu zerfallen, da dies zu einer Gefahr für marginalisierte Gruppen werden könnte. Das auf den Schwachen gerne herumgetreten wird, ob nun von Staaten oder nicht-staatlichen Gruppierungen hat uns das 20. Jahrhundert bestens gelehrt…
Das Argument, dass sich aus einem großen Staat, wie der Bundesrepublik, wieder kleiner Staaten/Gemeinschaften herausbilden könnten, ist meiner Meinung nach nichtig, im Hintergrund, dass andere, nicht aufgelöste Staaten, auf dem Weltmarkt dann noch weniger Konkurrenz besitzen würden und somit im Durcheinander der Mikrostaaten auch sicherlich kein großes Interesse daran hätten, Handelsbeziehungen mit diesen zu betreiben. Zudem würde diese Atomisierung des Staates zur Folge haben, dass sich das heutige Wirtschaftssystem nicht mehr tragen lassen würde. Die Konsequenz daraus wäre, dass diese kleinen Einheiten wieder nach Prinzipien des Merkantilismus miteinander Handel betreiben müssten, um sich wirtschaftlich zu stabilisieren bzw. überlebensfähig zu sein, zu komplex sind heutige Produktionsketten, um diese vollständig auf so viele Mikroeinheiten aufzuteilen.
Die Möglichkeit, dass alle Staaten sich dazu entschließen, ihre Herrschaft aufzugeben und zu einem vorstaatlichen Status quo zurückzukehren, ist in dem Moment gefährlich, in welchem sich ein einziger größerer Staat, wie China, sich dazu entschließen würde, nicht mehr mitzuziehen und ein Staat nach heutigen Vorstellungen zu bleiben.
Auch möchte ich mir ungern vorstellen, wie es denn wäre, wenn sich in diesem ganzen Flickenteppich wieder Konflikte mehren würden, man stelle sich ein Heiliges Römisches Reich ohne Kaiser vor, das Konfliktpotenzial wäre nicht nur unendlich, fast niemand würde die Macht besitzen, diese Konflikte im Ansatz zu unterbinden.
Was wäre denn nun, wenn sich eine Gemeinschaft mit extremst fortschrittlicher Technik dazu entschließen würde, die eigenen benachbarten Gemeinschaften zu überfallen und sich einzuverleiben? Der Mensch tendiert zum Neid: Was der andere mehr/besser hat, das möchte ich womöglich selbst besitzen (Das Bessere ist der Feind des Guten) – Die Ilias hat uns eine perfekte Vorlage für diese menschliche Schwäche schon vor langer Zeit gegeben.
Auch frage ich mich, da deine Idee sicherlich auf dem eigenen Konsens beruht, wie es denn mit folgenden Generationen aussehen würde? Was wäre, wenn sich die Folgegeneration dazu entschließen würde, keinen Konsens mehr zu geben, oder auf selbigen Gebiet eine eigene Gemeinschaft zu gründen? Wer hat jetzt recht? Wer regelt solche Fälle? Wer setzt gefällte Entscheidungen durch? Sofern man Menschen dazu bestimmt diese Tätigkeiten auszuführen, also judikativ oder exekutiv zu Arbeiten, auch nur für ganz kurze Zeit, entstehen wieder Beamte.
Eben aus diesen Gründen braucht es den Staat in heutiger Form, ob man nun will oder nicht, auch wenn es nur dafür ist, sich selbst mithilfe des Staates vor äußeren Einflüssen zu schützen, sonst würden wir alle Staaten mit Weltherrschaftsanspruch zum Opfer fallen, siehe China. Sicherheit und Freiheit stehen, wie es scheint, diametral gegenüber.
Man müsste einen ‚Reset‘-Knopf erfinden, um deine Utopie umzusetzen. Mich würde es brennend interessieren, wie eine Welt sich unter deinem Konzept, ganz ohne Staaten von null und ewig an entwickeln würde. Einen Testlauf, wie die Roseninsel, halte ich in heutiger Zeit auch aus selbigen Gründen nur kurzzeitig erfolgreich.