Privatstädte und Demokratie

von Juan de Dios Estevez

Das Thema Demokratie ist tendenziell eine der Hauptkritiken am Konzept Freier Städte. Tatsächlich bieten gerade diese neue Chancen für Demokratie, erklärt Juan D. Estevez.

Im Jahr 2018 veröffentlichte der Jurist und Unternehmer Titus Gebel sein Buch Freie Privatstädte: Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt. Bisher sind noch keine Freien Privatstädte nach Gebels Vorstellungen entstanden – dennoch ist seit der Veröffentlichung des Buches vieles passiert. Im Jahr 2022 entstand die neue Free Cities Foundation, die als Think-Tank und Umbrella-Organisation für Free-Cities-Projekte weltweit fungieren soll. Zumindest nach (und während) der Pandemie gewinnen Ideen von Charter Cities, Privatstädten und ähnlichen Konstrukten an Beliebtheit (Oberbegriff: Free Cities). Aber wenn eine neue (und eher kontroverse) Idee Fuß fasst, dann werden die Stimme der Kritiker immer lauter – und das ist grundsätzlich etwas Gutes. Durch Kritik von innen und außen werden wir mit unseren eigenen Ideen konfrontiert und können diese überdenken, anpassen, verbessern. Nur wenn wir uns mit der Kritik auseinandersetzen, können die Theorien und Ideen der Free Cities den Schreibtisch verlassen und ihren Weg in die Realität finden.

Ein Kritiker von Gebels Konzept ist der Soziologe Andreas Kemper, der Gebels Idee im Jahr 2022 ein ganzes Buch widmete. Ein Thema, das Kemper in seinem Buch diskutiert, ist der Aspekt der Demokratie in den Free Cities. Kemper ist nicht der einzige, der diesen Punkt anspricht – denn das Thema Demokratie ist tendenziell eine der Hauptkritiken am Konzept Freier Städte. Kritiker monieren, dass in solchen Projekte Demokratie gar keine oder eine sehr kleine Rolle spielen würde, wodurch Arbeitnehmer und ärmere Individuen einen Nachteil in diesen Städten hätten, da die Teilnahme am demokratischen Prozess erschwert ist oder dieser gar nicht existiert. Ich habe mich mit dieser These in einem vorherigen Artikel bereits auseinandergesetzt und dargelegt, warum Privatstädte eine großartige Chance insbesondere für arme Menschen sind.

Kehren wir jedoch zum Thema Demokratie zurück. Auch wenn Gebels Konzept durchaus als kritisch gegenüber modernen demokratischen Strukturen gesehen werden kann, bedeutet es noch lange nicht, dass Privatstädte per se keine Demokratie oder demokratische Elemente beinhalten können. Konzepte müssen nicht in Stein gemeißelt sein, und die realen Implementierungen müssen Gebels Idee nicht 1:1 entsprechen, was der promovierte Jurist in seinem Buch betont. Ein klares Beispiel ist die ZEDE (Zone for Employment and Economic Development) Próspera in Honduras. Auch wenn Próspera nicht als Privatstadt gilt, genießt sie eine besondere Autonomie, die der der weiteren honduranischen Bundesstaaten ähnelt. Próspera hat in seiner Struktur ganz klare demokratische Prozesse eingebaut, die sowohl dem Land Honduras als auch den Einwohnern ermöglichen, über die Zukunft der ZEDE mitzubestimmen.

Während in modernen Nationalstaaten (meistens) nur Bürger bei demokratischen Prozessen mitmachen dürfen, dürfen in Próspera alle Einwohner an solchen Prozessen teilnehmen – egal, wo sie geboren wurden. Um Resident von Próspera zu werden, muss man erstmal das Agreement of Coexistence akzeptieren – hier werden die Rechte und Pflichten aller Einwohner klar definiert. Sollte Próspera solche Rechte nicht einhalten, darf man die Stadt anklagen. Durch dieses Agreement hat jeder, der in Próspera wohnt, die Möglichkeit für den Próspera Council zu kandidieren und zu wählen – die einzige Ausnahme ist die Position des Technical Secretary (diese darf nur von einem in Honduras geborenen Individuen bekleidet werden). Der Technical Secretary der ZEDE fungiert ähnlich wie ein Bürgermeister und ist Vorsitzender des Councils. Das Council besteht aus acht Mitgliedern und dem Technical Secretary und entscheidet unter anderem über die Zulassung von Referenden oder über den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung von Satzungen, Verordnungen, Erlassen und Beschlüssen. Während in Ländern wie Monaco, der Schweiz oder Dubai, „Expats“ sehr, sehr selten in demokratischen Prozessen teilnehmen können, darf in Próspera jeder Resident an diesem teilnehmen; nicht besonders undemokratisch, oder?

Dadurch, dass neue Einwohner explizit einen Vertrag mit den Betreibern der Stadt eingegangen sind und sie in der Stadt mehr Freiheiten genießen als anderswo – die Regeln, unter denen sie leben, sind ja gerade jene, denen sie freiwillig zugestimmt haben –, haben die Einwohner einen Anreiz, dass die Stadt gut betrieben wird. Solche Städte sind For-Profit-Projekte – sollten sie scheitern, dann sind die Einwohner direkt betroffen – sie haben daher skin in the game und möchten für die Attraktivität ihrer Stadt sorgen.

Für Gebel signalisiert der marktwirtschaftliche Prozess, welches Free-City-Projekt gerade am attraktivsten oder am unattraktivsten wahrgenommen wird – und das ist richtig, denn der marktwirtschaftliche Prozess bietet uns eine Menge an hilfreichen Informationen, die wir anders nicht wahrgenommen hätten. Jedoch bedeutet dies, meiner Meinung nach, nicht, dass demokratische Prozesse obsolet wären. Wenn Kunden auswandern, ist es schon zu spät für Unternehmer, zu reagieren. Deswegen bemühen sie sich, stetig Feedback von ihren Kunden zu bekommen – zum Beispiel mit Umfragen. Damit kann der Unternehmer frühzeitig reagieren, wenn die Kunden unzufrieden werden und vermeiden, dass die zum Wettbewerber auswandern.

Wie würde in diesem Fall eine Privatstadt reagieren? Eine Möglichkeit wäre eben demokratische Strukturen in dieser Stadt zu implementieren – dadurch können Stadtbetreiber frühzeitig erkennen, wenn die Einwohner unzufrieden mit der Richtung oder Leitung der Stadt sind und stets reagieren. Darüber hinaus können solche Prozesse helfen, dass Einwohner sich nicht nur als Gäste der Stadt sehen, sondern als essentiellen Teil davon, und da sie skin in the game haben, kann eine Art „Bürgerplicht“ entstehen. Man hat bereits erkannt, dass Beteiligungen am Erfolg des Arbeitgebers, z.B. durch Mitarbeiteraktien, die Motivation und Moral der Arbeitnehmer erhöht – wenn Bewohner sich als wichtigen Teil der Privatstadt sehen, dann werden diese sich ebenso bemühen, für eine optimale Führung dieser zu sorgen. Und das kann wahrscheinlich am besten koordiniert werden, wenn man demokratische Aspekten in die Strukturen von Privatstädten implementiert. Das ist ein massiver Unterschied zur gegenwärtigen Situation in Nationalstaaten – Staaten können kaum pleite gehen; sie können die Rechte ihrer Einwohner einschränken; massive Umverteilung findet statt; Politiker haften nicht für ihre Aktionen. Demokratie sollte genau dies vermeiden, aber die Strukturen sind so starr und korrumpiert, dass das heute nicht mehr der Fall ist. Und die Privatstadt hat einen weiteren Vorteil: dadurch, dass die Privatstadt mit jedem einzelnen Einwohner einen Vertrag abgeschlossen hat, gibt es ein Set von Rechten und Pflichten, die wirklich unantastbar sind – unabhängig von jeglicher demokratischen Entscheidung.

Das bedeutet sogar, dass Demokratie in Privatstädten sogar besser funktionieren kann. Ohne Politiker oder Bürokraten, die Hürden darstellen, können neue Ideen und Konzepte eingeführt werden. Ideen, die in bestehenden Strukturen in Nationalstaaten sehr schwer implementierbar wären, können in Privatstädte vorerst in klein probiert werden. Dies würde dazu führen, dass in Privatstädten sogar Innovation in demokratischen Prozessen stattfindet. Ideen wie Blockchain-basierte Demokratie, polyzentristische Demokratie, Quadrat-voting-Verfahren und weitere Innovationen könnten ihre Entfaltung in diesen Städten finden. Wettbewerb sogar innerhalb dieser neuen demokratischen Verfahren würden für neue Einwohner interessant werden; die attraktivsten Alternativen würden die meisten der Kunden ansprechen. Heute sehen wir Innovation als etwas, was sich hauptsächlich in Konsumgütern widerspiegelt. Unsere gegenwärtigen demokratischen Institutionen – so mangelhaft wie diese auch sind – gehören nicht zu den Prozessen, die unter Innovation fallen, auch wenn hier ein Update wohl nötig wäre. Kemper nennt Privatstädte „Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus“, aber vielleicht können diese eher Labore für eine verbesserte Demokratie werden.

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