Juan D. Estevez schreibt historisch über soziale Marktwirtschaft, Liberalismus und die katholische Kirche. Christliche Lehre und der Glaube an Gott werden dabei in Relation zu liberalen Prinzipien gesetzt.
In unserer Gesellschaft identifizieren sich viele Menschen als christlich, auch wenn sie selten in die Kirche gehen oder nur oberflächliche Kenntnisse über die christliche Lehre haben. Was einige vielleicht als Widerspruch oder bloße Ignoranz ansehen, signalisiert in Wirklichkeit den Einfluss, den christliche Institutionen in unserer westlichen Welt ausüben. Selbst diejenigen, die sich selbst als nicht gläubig verstehen, erkennen an, dass unser liberaler und säkularer Lebensstil maßgeblich vom christlichen Glauben beeinflusst wurde.
Wenn Liberale einen Blick auf die jüngere Geschichte der Kirche werfen, könnten sie jedoch Schwierigkeiten haben, liberale Aspekte in den Botschaften der Kirche zu erkennen. Papst Franziskus etwa hat den Kapitalismus scharf kritisiert. „Diese Wirtschaft tötet“, schrieb er in seinem ersten Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium. Wenn wir die Lehren der katholischen Kirche genauer betrachten, sollten wir jedoch nicht nur die jüngsten Jahre in Betracht ziehen – insbesondere, wenn man eine 2000 Jahre alte Institution betrachtet.
Der Einfluss der Katholischen Kirche auf liberale Ideen und Position
Die Realität ist, dass die Katholische Kirche viele Ideen und Positionen, die wir heute als Liberalen vertreten, stark beeinflusst hat. Besonders hervorzuheben sind Argumente für Privateigentum, eine freie Marktwirtschaft und das Konzept des Individuums. Schon im 4. Jahrhundert n. Chr. legte der Heilige Augustinus den Grundstein für ein nuancierteres Verständnis der Beziehung des Individuums zu Gott. Augustinus‘ Betrachtung des freien Willens als Schnittpunkt zwischen menschlicher Wahl und göttlicher Vorsehung verknüpft katholische Lehren zur moralischen Verantwortung und betont die Bedeutung der persönlichen Entscheidungsfreiheit und individuellen Handlungsfähigkeit, wodurch das Individuum in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt wird.
Von hier aus veränderte sich die Art und Weise, wie katholische Denker arbeiteten. Sie begannen, auf die griechische Philosophie zurückzugreifen, um ihre Argumentation systematisch aufzubauen. Logik und metaphysische Spekulationen boten den Rahmen, in dem neue christliche Argumente entwickelt wurden. Dies führte schließlich im 9. Jahrhundert zur Entstehung der Scholastik.
Scholastiker wie der Heilige Thomas von Aquin, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham suchten nach einer Synthese von Glauben und Vernunft, indem sie die Ideen der antiken Philosophen, insbesondere von Aristoteles, mit der christlichen Theologie in Einklang brachten. Der Aquinat betonte das Konzept des Naturrechts, das die Idee beinhaltete, dass bestimmte Rechte und Pflichten den Menschen aufgrund ihrer menschlichen Natur innewohnen. Das Individuum besitzt einen freien Willen und ist somit moralisch für seine Handlungen verantwortlich.
Der Hl. Bernhardin: ethisches Handeln in einem freien Markt
Im 15. Jahrhundert zeigte der Heilige Bernhardin von Siena, dass Preise durch Knappheit (raritas), Nützlichkeit (virtuositas) und Begehrlichkeit (compacibilitas) bestimmt werden. Wenn Güter im Überfluss vorhanden sind, sinkt ihr Wert. Wenn sie knapp sind, steigt er – eine Erkenntnis, die für uns heute selbstverständlich erscheint, damals jedoch keineswegs Konsens war. Der heilige Bernhardin verteidigte die Ansicht, dass Händler und Einzelpersonen ihre Preise und Praktiken selbst regeln sollten ohne Einmischung von Kirche oder Staat. Er ermutigte jedoch zu ethischem Verhalten im wirtschaftlichen Prozess und forderte die Händler auf, in ihren Geschäften ehrlich und gerecht zu handeln. Er schrieb auch über die Tugenden erfolgreicher Unternehmer, darunter Effizienz, Risikobereitschaft, Verantwortung und Integrität (industria und pericula).
Mit der Schule von Salamanca erlebte die Spätscholastik eine äußerst produktive Phase. Die Denker in Spanien leisteten bedeutende Beiträge zum Verständnis von Marktpreisen, Wert und ökonomischen Prinzipien. Ein gemeinsamer Faden in ihren Überlegungen war die Betonung der Bedeutung von Angebot und Nachfrage bei der Preisbildung. Luis Saravía de la Calle argumentierte, dass der „gerechte“ Preis nicht durch die Kosten, sondern durch die Kräfte von Angebot und Nachfrage bestimmt wird, die wiederum das Ergebnis der gemeinsamen Einschätzung der Verbraucher auf dem Markt sind (aestimatio fori). Diego de Covarrubias y Leiva betonte, dass der Wert eines Gutes von der menschlichen Einschätzung abhängt, unabhängig davon, ob diese Einschätzung als naiv oder sogar dumm angesehen wird. Francisco García analysierte die Einflussfaktoren auf den Wert und die Nützlichkeit von Gütern, darunter Angebot und Nachfrage, die Anzahl der Käufer und Verkäufer und – besonders wichtig – die Menge an Geld im Umlauf.
Francisco de Vitoria, Domingo de Soto und ihre Anhänger leisteten wertvolle Beiträge zum Verständnis von Marktkräften. Ihre Ideen legten den Grundstein für spätere Entwicklungen in der ökonomischen Theorie und die Grundlagen einer auf freiheitlichen Prinzipien basierenden Ordnung. Der katholische Liberale und Historiker Lord Acton schrieb, dass „der größte Teil der politischen Ideen von Milton, Locke und Rousseau im schwerfälligen Latein der Jesuiten, den Untertanen der spanischen Krone, in Lessius, Molina, Mariana und Suárez, zu finden ist.“ Ein essenzielles Argument für die Freiheit von katholischer Seite kommt auch im spanischen Imperialismus. Siehe den Dominikaner Bartolomé de las Casas, der sich gegen die Gräueltaten gegenüber den indigenen Völkern aussprach – da jeder Mensch (auch eben jene) von Gott geschaffen ist.
Die moderne katholische Soziallehre
Mit der fortschreitenden Globalisierung entwickelten sich die Fragen und Antworten der Kirche. Papst Leo XIII., der als Vater der modernen katholischen Soziallehre gilt, setzte sich in seiner Enzyklika Rerum Novarum (1891) systematisch mit den Veränderungen und Herausforderungen der aufkommenden modernen Gesellschaft auseinander. Er verurteilte den Sozialismus in schärfsten Tönen und verteidigte das Privateigentum noch vehementer. Für ihn war es eine der wichtigsten Aufgaben des Staates, das Eigentum der Individuen zu schützen, da Privateigentum ein individuelles Recht ist.
Hundert Jahre nach Rerum Novarum und kurz nach dem Scheitern des Sozialismus in Europa veröffentlichte Papst Johannes Paul II. seine Enzyklika Centesimus Annus (1991). Er betrachtete die Marktwirtschaft als ein effizientes System zur Ressourcenallokation, das in der Lage ist, die Bedürfnisse einer großen Anzahl von Menschen zu befriedigen. Im Vergleich zur sozialistischen Wirtschaft betonte er, dass die Marktwirtschaft den Wünschen und Vorlieben des Einzelnen eine zentrale Rolle einräumt. Sie ist daher nicht nur technisch überlegen, sondern auch mit der Würde und Freiheit des Individuums vereinbar. Darüber hinaus fördert die Marktwirtschaft nicht nur diese Werte, sondern entwickelt sie aktiv weiter.
In Deutschland entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen der Katholischen Soziallehre und den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Insbesondere Kardinal Joseph Höffner (Schüler von Walter Eucken), Wilhelm Weber, Oswald von Nell Breuning und andere hatten einen großen Einfluss. Kardinal Höffner schrieb
„Die Katholische Soziallehre hält die Marktwirtschaft für die richtige Grundform der Wirtschaftsordnung. Sie ist jedoch davon überzeugt, dass ihr ein humanes Leitbild gegeben werden muss.“
Die Geschichte der katholischen Kirche und ihre Beziehung zu liberalen Prinzipien sind komplex und vielschichtig. Die Kirche hat im Laufe der Jahrhunderte viele Ideen und Prinzipien entwickelt, die heute als liberale Werte angesehen werden können. Die Betonung der persönlichen Freiheit, der Schutz des Privateigentums und die Bedeutung von Angebot und Nachfrage in der Wirtschaft sind nur einige Beispiele dafür. Trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten und Kritikpunkten haben die Lehren der Kirche dazu beigetragen, die Entwicklung einer freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung zu fördern. Dieser historische Zusammenhang zwischen der katholischen Kirche und liberalen Ideen ist ein faszinierendes Kapitel in der Geschichte der westlichen Zivilisation.
Dieser Beitrag erschien zuerst im freiraum #80 (04/2023), dem Magazin des Verbands der Stipendiaten und Altstipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (VSA). Er wird hier mit freundlicher Genehmigung erneut veröffentlicht. Der Beitrag spiegelt die Meinung des Autors, nicht notwendigerweise jene der Organisation wider. Dieser Blog bietet eine Plattform für unterschiedliche liberale Ideen. Du möchtest auch einen Artikel beisteuern? Schreib uns einfach eine Mail: redaktion@derfreydenker.de!
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