Was passiert gerade in Chile?

von Madeleine Bausch

Seit mehr als einer Woche protestieren Tausende von Menschen in Chile auf den Straßen gegen die sozialen und politischen Umstände im Land. Gewalttätige Demonstranten und radikalisierte Gruppen nutzen die Proteste, um ihrem Hass und Wut gegen die Regierung Luft zu machen; andere, um öffentliche Güter und privates Eigentum zu zerstören und zu rauben. Inzwischen zählen die Proteste 18 Tote, Milliardenschaden durch niedergebrannte Metros, Metrostationen und Busse, geplünderte und zerstörte Supermärkte. Menschen müssen Schlange in Supermärkten stehen, um an Essen zu kommen. Die Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt, sowie eine Ausgangssperre in der Nacht. Viele fühlen sich an die Militärdiktatur Pinochets erinnert. Doch was sind eigentlich die Hintergründe?
Angefangen hat alles am 6. Oktober 2019 mit einer Erhöhung des Metro-Preises um 30 chilenische Pesos (umgerechnet 0,037€) von 800 (ca. 1€) auf 830 (ca. 1,03€) Pesos pro Fahrt. Die Regierung beschloss die Erhöhung des Preises aufgrund einer Kostenreformierung durch das Verkehrsministerium sowie aufgrund des Ausbaus zweier neuer Metro-Linien. Schüler und Studenten sollten 230 Pesos (ca. 0,30€) pro Fahrt bezahlen.
Einige Schüler und Studenten reagierten auf die Preiserhöhung zunächst mit einer Umgehung der Bezahlung der Metro, sprangen über die Drehkreuze und riefen zur Boykottierung der Bezahlung auf. Dies geschieht prinzipiell jedes Jahr, wenn die Preise erhöht werden. Was dieses Jahr allerdings anders war: Es folgte die Zerstörung ganzer Metrostationen, Bushaltestellen und weiteren öffentlichen und auch privaten Einrichtungen. Die Zentrale von Enel, eines chilenischen Energieunternehmens, wurde in Brand gesetzt, Supermärkte geplündert und niedergebrannt.
Manchen Quellen zufolge ging der Protest von den Schülern des Instituto Nacional aus, einer Jungenschule, die durch den Staat finanziert wird und aus der viele wichtige Politiker hervorgingen. Manche der Schüler gelten als die radikalsten und gewaltbereitesten der Protestwelle, die viele der Zerstörungen in der Stadt initiierten und anführten. Bereits 2011-2012 führten vor allem Studenten gewalttätige Demonstrationen an, anfangs aufgrund der Studiengebühren.
Die Auswirkung der Preiserhöhung trifft dabei vor allem die Ärmsten der chilenischen Bevölkerung. Der Mindestlohn beträgt derzeitig in Chile 301.000 Pesos (ca. 373,63€), der Durchschnitt liegt bei 570.000 Pesos (ca. 700€). Bei Hin- und Rückfahrt zur Arbeit zu den Stoßzeiten (5 Tage die Woche á 2 Fahrten) beläuft sich die monatliche Summe bereits bei 1€ pro Fahrt also auf 40€ (ohne zusätzliche Fahrten am Wochenende). Dazu muss man wissen, dass es in Santiago de Chile keine Monats- oder Jahreskarten gibt, sodass jede Fahrt einzeln bezahlt werden muss.
Man sollte meinen, dass die Preiserhöhung von 30 Pesos minimal sei. Jedoch stellt diese Erhöhung nur die Spitze des Eisbergs dar. In Wirklichkeit geht es um das „neoliberale Wirtschaftssystem“, das von den Demonstranten angegriffen wird. Laut deren Meinungen geht es unter anderem um ein prekäres Gesundheits- und Rentensystem, enorme Preise für Medikamente, und um die viel zu hohen Gehälter einer „politischen Elite“.
In WhatsApp und Instagram zirkulieren Grafiken, die das Problem als Eisberg darstellen:

Bildquelle: https://me.me/i/the-chilean-iceberg-neoliberalism-crisis-detonation-effect-increased-public-transport-daa539f8aaf94f3998c5b8f461d97a70

 

Wie in vielen anderen Städten ist auch das Transportsystem in Chile in staatlicher Hand. Der Betreiber ist zwar die Empresa de Transporte de Pasajeros Metro S.A, also eine Aktiengesellschaft, deren Anteile allerdings zu 100% dem Staat gehören.

 

 
Wenn man sich über die Sachlage informieren möchte, fällt bald auf, dass die Lage weitaus komplexer ist, als es scheint. Die Medien zeigen vor allem Bilder der Zerstörung und Verwüstung radikaler und krimineller Gruppen, brennende Metros und Züge, geplünderte und niedergebrannte Supermärkte und Demonstranten, die sich mit Polizei und Militär Straßenschlachten liefern. Es sieht aus wie im Krieg. Die Sensationslust der Medien, Fake News und hoch politisch ideologisierte und radikale Meinungen verschleiern dabei oft den Blick auf das Wesentliche.
Wahr ist, dass bereits 18 Personen getötet wurden, viele verletzt, noch mehr befinden sich hinter Gittern. Fünf Personen starben aufgrund eines Feuers, eingeschlossen in einer Kleiderfabrik, das durch die radikalen Gruppen ausgelöst wurde. Vor mehreren Tagen hat die Regierung daher eine Ausgangssperre zwischen 22 und 5 Uhr morgens in der Hauptstadt Santiago de Chile verhängt. In der Zeit patrouilliert das Militär, um alle festzunehmen, die die Ausgangssperre missachten. Es wundert kaum, dass sich viele Chilenen in die Zeit der Diktatur von Pinochet zurückgesetzt fühlen; Hass und Wut gegenüber der Regierung und dem Militär werden immer größer. Viele von Ihnen haben die Diktatur (1974-1990) selbst miterlebt. Nichtsdestotrotz müssen Militär und Polizei versuchen, die Ordnung wiederherzustellen und gegen die Straftäter vorgehen.
Die chilenische Bevölkerung scheint hierbei in verschiedene Lager getrennt zu sein:
Auf der einen Seite stark links orientierte, radikalisierte anarchokommunistische Schüler, Studenten und Demonstranten, die die Proteste anführen. Sie vergleichen den Eingriff des Militärs und der Polizei mit der Militärdiktatur Pinochets. Sie fordern den Rücktritt des Präsidenten Sebastián Piñera und eine radikale Änderung des „neoliberalen Wirtschaftssystems“ hinzu einem Sozialstaat, d.h. mehr Kontrolle und Finanzierung durch den Staat. Die radikalsten unter ihnen haben zum Ziel, durch Revolution den Kommunismus im Land zu etablieren. Die Plünderung von Supermärkten und die Zerstörung von Privateigentum kann hier auf eine antikapitalistische Haltung zurückgeführt werden. Das dadurch allerdings ganze Unternehmen und viele Arbeitsplätze vernichtet werden, scheinen die Demonstranten kaum wahrzunehmen.

 

Das chilenische Wirtschaftsmodell fußt auf marktwirtschaftlichen Reformen, die unter dem Diktatorialregime Pinochets unter Beratung US-amerikanischer Ökonomen eingeführt wurden. Beeinflusst von den Lehren Milton Friedmans veränderten chilenische Politiker und Ökonomen die ursprünglich wirtschaftsliberalen Ideen zu einer durch Subsidiarität geprägte Staatsform.

 

Auf der anderen Seite stehen Anhänger der Mitte-rechts orientierten Regierung, die die Aktion des Militärs gegenüber gewaltbereiten Demonstranten zum Teil billigen, um die „soziale Ordnung“ wiederherzustellen.
Die Mehrheit der Chilenen lehnen allerdings die Gewalt und Plünderungen ab. Das sind diejenigen, die mit Kochtöpfen und Pfannen auf die Straße gehen und mit den sogenannten cazerolas laut gegen die herrschenden sozialen und politischen Zustände des Landes protestieren. Auch sie verlangen den Rücktritt des Präsidenten Sebastián Piñera, eine drastische Reduzierung von Politikergehältern sowie eine grundlegende Neuerung der chilenischen Verfassung und einen Ausbau des Solidaritätssystems.

 

Viele Demonstranten bezeichnen die derzeitige Verfassung als illegitim, da diese bereits 1980 unter dem damaligen Militärregime Augusto Pinochets verabschiedet wurde und noch heute gültig ist. Nichtsdestotrotz wurde diese seit dem Ende der Diktatur 1990 mehrere Male reformiert und auch von den linken Regierungen unterschrieben und gebilligt.

 

Es scheint beinahe egal, welchen Lagern die Demonstranten angehören. Eines haben sie gemeinsam: die Unzufriedenheit über die derzeitigen sozialen Zustände des Landes sowie die Ablehnung der Aktionen und Reaktionen der politischen Elite. Die meisten fordern den Rücktritt des Präsidenten – aus unterschiedlichen Gründen – und eine Neuerung der sozialpolitischen Ordnung. Fakt ist, dass viele Chilenen derzeitig unter den wirtschaftspolitischen und sozialen Zuständen leiden.
Offen bleibt jedoch die Frage, ob die Schuld dem „neoliberalen Wirtschaftssystem“ gilt, einer unfähigen politischen Elite oder etwa der exponentiellen Vergrößerung des Staates und der Verbreitung linksradikaler Ideen über die letzten Jahre hinweg.
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