24 % der 18-29-Jährigen wählten bei der vergangenen Wahl in Thüringen die AfD. Für notorische Blasenbewohner ist das schwer verständlich. What? Notizen zu einem Erklärungsprogramm.
Eben noch wurde der Jugend in der Shell-Studie bescheinigt, zwar politischer, aber auch populismusanfälliger zu sein als je zuvor. Dabei dachten wohl die meisten an übers Ziel hinausschießende Klimaaktivisten, die zugunsten von Protesten und Straßenblockade Schule und Studium schleifen lassen. Und jetzt das. Wer als junger Mensch überhaupt politisiert ist, ist nicht mehr automatisch links. Auch nicht grün. Auch nicht liberal. Die AfD, diese von alten Männern dominierte Partei, erreicht plötzlich die Jungen. Thüringen, dessen jüngster Popstar gerade noch auf städischen WG-Partys für fassungsloses Gelächter sorgte, lässt uns jetzt wieder fassungslos zurück. Zum Lachen ist es aber nicht mehr. In Thüringen sehnt sich die Generation Greta offenbar mehrheitlich nach klarer Begrenzung nach innen und nach außen. Politisch genau wie ökonomisch. Auf den ersten Blick ist das einigermaßen verwirrend. Immer lockerer, immer weltoffener, immer freier – ist das unter jungen Menschen nicht mehr die allgemeine geistige Richtung? Aus dieser Verwirrung formen sich langsam drei Erklärungsversuche.
Interpretation 1: Abgrenzung durch Konformismus
Lange Zeit schien Jugend und die damit einhergehende Abgrenzung gleichbedeutend mit einer Betonung der eigenen Individualität zu sein. Doch in einer Zeit, in der diese Individualisierung vom rebellischen Akt zum Sachzwang geworden ist, um sich auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen oder im Sozialleben erfolgreich positionieren zu können, kann eine Verweigerung eben dieser Individualität zugunsten eines möglichst homogenen und den Konformismus mit tradierten Normen geradezu einfordernden Kollektivs zumindest zum Versuch eines Aufstands werden. Die Wahlergebnisse ließen sich dann weniger durch Menschenfeindlichkeit als durch ehrliche Affirmation eines imaginierten harmonischen Gemeinschaftszustandes erklären, in der der nächste Praktikumsplatz und die nächste Modewelle plötzlich nicht mehr wichtig sind.
Interpretation 2: Ökonomische und nichtökonomische Zukunftsangst.
Vielleicht sehen die jungen AfD-Wählenden ein NINJA-Szenario als ihre ökonomische Zukunft: no income, no job, no assets. Wenn sie dann primär nach ihren ökonomischen Interesse wählen, könnte das für sie bedeuten: Eine bessere Zukunft ist mehr oder weniger gleichbedeutend mit einem besseren Sozialstaat. Der ist aber durch Zuwanderung bedroht. Der Linken, die kaum gegen offene Grenzen opponiert, wird dessen Schutz nicht mehr zugetraut.
Falls sie nicht primär ökonomisch wählen, könnte Zukunftsangst entsprechend heißen: Die Welt da draußen ist für uns noch unheimlicher als für unsere Eltern und Großeltern, sie ist unsicher und bedroht uns. Wenn die unvermeidliche Katastrophe passiert, müssen wir bereit sein. Lebensweltlich würde dies primär die Ablehnung eines „Linksliberalismus“ statt der ehrlichen Affirmation eines „Rechtsautoritarismus“ bedeuten. Das Bedrohungstriple sind dann Fortschritt, Moderne und Ausländer – auch wenn die Außenperspektive nahelegen würde, dass es Thüringen an genau diesen drei Dingen mangelt. Dass irgendeine Politik von rechts oder links derartige Abschottungsfantasien verwirklichen kann, ohne zuerst der eigenen Bevölkerung zu schaden, muss bezweifelt werden.
Interpretation 3: Ungerichtet-apolitischer Aufstand in irgendeine Richtung
Jenseits aller analytischer und politischer Kriterien hat sich die AfD einen Ruf als Tabubrecherin, Anti-Establishment und Ruhestörerin erarbeitet. A priori sind das Bezeichnungen, die locker auch auf viele Jugendbewegungen und Subkulturen der Vergangenheit gepasst hätten: die 68er, Punk, selbst HipHop. Vielleicht kann man aus dieser Sicht genau so wenig politisch sein, um die AfD zu wählen, wie man tatsächlich Drogendealer oder Pumper sein muss, um Rap zu feiern. In diesem Sinn wäre die Beziehung der AfD zu ihren jungen Wählern genau so kontingent wie zu beliebigen kommerziellen Jugendikonen – und der Rechtskonservatismus nur der nächste austauschbare Trend. Im Obsoletwerdungsprozess des Konservatismus wäre damit eine weitere kritische Stufe erreicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Die Funzel.
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