Gerade in Zeiten wie diesen, in denen die Menschheit sich in einer Krise befindet und vor großen Herausforderungen steht, werden viele Dinge hinterfragt – von eingefahrenen Verhaltensmustern über die Wirtschaftsordnung bis hin zu den Wertvorstellungen, die dem Zusammenleben in der Gesellschaft zugrunde liegen. Immer wieder wird zu Recht der altruistische, selbstlose Einsatz bestimmter Berufsgruppen wie beispielsweise der Krankenpfleger*innen gelobt. Im Gegenzug wurde der Egoismus der vielen Hamsterkäufer*innen, die unter anderem Toilettenpapier in Massen statt Maßen horteten, oftmals angeprangert. Was bei derartigen Gegenüberstellungen auffällt ist, dass der Mensch im Allgemeinen häufig die Tendenz zeigt, Sachverhalte bloß im schwarz-weiß-Schema zu sehen: Es ist ein entweder oder, es gibt keine Grauzone dazwischen. Das derartige Denken in Dichotomien ist tief in uns verankert. Es birgt jedoch vielfach Konfliktpotential, da es keinen Interpretationsspielraum lässt. Dies wird insbesondere problematisch, wenn es um sensible und vielschichtige Themen wie Moral und Ethik geht.
Ein sehr interessanter Aspekt ist dabei unter anderem die Bedeutung des Begriffs „Egoismus“. Dieser wird im alltäglichen Sprachgebrauch fast durchgehend mit stark negativer Konnotation genutzt. Egoismus gilt als schlechte Charaktereigenschaft und wird in vielen Philosophien als unmoralisch angesehen. Jedoch gibt es auch Vertreter*innen gegenteiliger Ansichten; eine von diesen ist die bekannte libertäre Autorin Ayn Rand, welche die Philosophie des Objektivismus entwickelte.
Der Eigennutz des Individuums ist ein zentraler Bestandteil dieser Philosophie. Ayn Rand vertritt die Ansicht, dass rationaler Egoismus absolut moralisch ist. Zur Begründung dieser Aussage benötigt man eine adäquate Definition des Begriffs Moral: Moral ist ein Kodex an Prinzipien beziehungsweise Werten, die den Einzelnen bei seinen Entscheidungen und Handlungen leiten. Hieraus ergibt sich weiter die Notwendigkeit einer Definition von Werten. Nach Ayn Rand sind Werte das, was man zu erreichen und zu behalten strebt. Aus dieser sehr allgemeinen und doch präzisen Definition folgert sie, dass alle Lebewesen – ganz gleich welcher Spezies sie angehören – das Ziel verfolgen ihre Werte zu erreichen. Nach Ayn Rands Definition sind Werte unter anderem auch materielle Dinge wie zum Beispiel Nahrungsmittel. Erreicht ein Lebewesen seine Werte nicht oder nicht mehr, so endet seine Existenz dadurch gezwungenermaßen. Somit lassen sich die Werte eines Lebewesens aus der objektiven Realität ableiten, und aus den Werten lässt sich die Moral ableiten. Mit diesem Ansatz kann man eine auf Wissenschaft basierende, allgemein gültige Moral ableiten, die unabhängig von religiösen Ansichten oder Ähnlichem eine Einteilung in gut und schlecht erlaubt. Mit der eben dargelegten Kette an Definitionen schafft Ayn Rand es, die sogenannte „is-ought-gap“ (auch als „fact-value-gap“ bezeichnet) zu schließen, die das Problem beschreibt, dass man nach Annahme vieler Philosophen*innen moralische Prinzipien eben nicht einfach aus den Fakten der objektiven Realität ableiten kann, und überdies ergibt sich daraus die Legitimation für den rationalen Egoismus: Handlungen, die dem eigenen Leben zuträglich sind, gelten als gut.
Wie erkennt man aber, welches Verhalten nun richtig ist? Dazu setzt der vernunftbegabte Mensch seinen Verstand ein – er muss ihn als Werkzeug nutzen, um die objektive Realität trotz dessen, dass er sie subjektiv wahrnimmt, zu verarbeiten. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Erkenntnis, dass diejenigen Handlungen gut sind, die dem eigenen Leben zuträglich sind, für das persönliche Leben? Allem voran natürlich, dass Egoismus entgegen der gesamtgesellschaftlichen Meinung nicht grundsätzlich schlecht ist. Zudem ist Egoismus erwiesenermaßen essentiell für Selbstliebe und somit eine gesunde Psyche, wie die Forschung der Psychologie bewiesen hat. Die eigenen Bedürfnisse gegenüber denen anderer Leute zu priorisieren ist elementar für ein erfülltes Leben; wer hingegen immer nur versucht, es allen anderen recht zu machen, wird nicht glücklich werden. Egoistisch sein klingt zwar schlimm, ist es in Wahrheit aber nicht. Obwohl er oft mit völliger Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Personen gleichgesetzt wird, bedeutet Egoismus im Kern nicht, dass man sich gar nicht um andere Menschen sorgt – Egoismus bedeutet, dass man sich erst um sich selbst und dann um andere sorgt. Man vermeidet dort zwar das Wort Egoismus, aber grundlegend stimmt diese Sichtweise auch mit gebräuchlichen Redewendungen wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ überein: Im Prinzip heißt das nichts anderes als dass sich jeder selbst um seine eigenen Bedürfnisse und deren Erfüllung kümmern muss. Egoismus ist ein natürliches Verhalten, dass evolutionär sinnvoll ist, weil es unser Überleben sichert. Das sollten wir uns öfter vor Augen führen und vor allem entsprechend handeln, ohne uns hinterher zu Unrecht vom schlechten Gewissen plagen zu lassen. Wir sollten uns öfter mal auf unsere eigenen Wünsche und deren Umsetzung konzentrieren, damit wir glücklich werden können.