Das Jahr 2020 ist ein besonderes Jahr für alle. Obwohl in vielen Länder wichtige Veränderungen stattfinden, richtet sich die allgemeine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Länder Europas und die USA. Russland ist eines der Länder, dessen Veränderungen von Europäern noch nicht wahrgenommen wurden. Allerdings ist das Jahr 2020 ein Wendejahr für Russland, ein Jahr, auf das ein Schicksalsjahr folgen muss. Dieser kleine Artikel erhebt den Anspruch die stattgefundenen Ereignisse hervorzuheben und ihren Einfluss auf die Zukunft zu deuten. Zuerst werden Verfassungsänderungen betrachtet, dann wird die Vergiftung des oppositionellen Politikers Nawalny analysiert und schließlich ein Blick auf die Parlamentswahlen 2021 geworfen.
Volksabstimmung über die Verfassungsänderungen
Verfassungsänderungen
Erstens ist es wichtig zu erinnern, was am Anfang des Jahres geschehen ist. Am 15. Januar hat die Ansprache von Putin an die Bundesversammlung ohne großes Aufsehen stattgefunden. Wie dies immer bei politischen Reden der Fall ist, wurden viele läppische Aussagen gemacht und viele unerfüllbare Versprechen abgegeben. Allerdings lag der Sinn dieser Ansprache darin, die Verfassungsänderungen anzukündigen.
Putin sprach von zahlreichen Verbesserungen und von einer wundervollen, traumhaften Zukunft, die in seinen Augen lediglich sein KGB-Regime dem russischen Volk garantieren kann. (Es stellt sich die Frage, wer die Macht in den vergangenen zwanzig Jahren gehabt hat…) Durch diese Ankündigung möchte Putin der von ihm auserkorenen „Elite“ (zum Beispiel seinem Wächter Zolotov oder seinem Koch Prigoschin und weitere seiner Scharwenzel, die der Rede aufmerksam zuhören) zeigen, dass er noch Kräfte zum Fälschen, Stehlen und Töten hat und das auch gerne bis zu seinem Tod machen würde. Denn die größte Angst der vermeintlichen “Elite” Putins besteht in ihrer Unsicherheit: Niemand möchte nach dem Rücktritt des Alleinherrschers die so lang geplünderten Schätze verlieren und demnächst für zahlreiche Verbrechen vom Volk verurteilt werden.
Um seine Absichten nicht nur mit dem Wort, sondern auch in der Tat zu beweisen, wurde von Putin eine Arbeitsgruppe gebildet. Diese Gruppe war sehr produktiv und hat 339 Veränderungen in weniger als 60 Tagen vorgeschlagen. Sie hat aber nicht gewusst, genau welche Veränderungsvorschläge Putin von ihnen erwartet, obwohl seine Wünsche für andere Beamte bekannt und leicht vorhersagbar sein sollten. Diesen bescheidenen kleinen Wunsch des KGB-Offiziers hat die ehemalige sowjetische Kosmonautin und jetzt ein (höchstwahrscheinlich korruptes) Mitglied der Putinpartei Walentina Tereschkowa vorhergesagt, indem sie am 10 März dem Parlament vorgeschlagen hat, die Zählung der bisherigen Amtszeiten Putins zu annullieren. Es ist kaum überraschend, dass die Abgeordneten den Vorschlag absegneten. Die Staatsduma und der Föderationsrat haben den Veränderungen zugestimmt, Putin hat das entsprechende Gesetz unterschrieben und das Verfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit der Änderungen bestätigt. Also traten die Verfassungsänderungen schon am 14. März in Kraft.
Somit ist die Zukunft Russlands für mindestens die nächsten 13 Jahren festgelegt. Dies reichte aber dem Präsidenten nicht. Der selbsternannte Zar wollte nicht nur zeigen, dass er gerne für eine Ewigkeit regieren würde, sondern er wollte auch zeigen, dass das Volk ihn nicht so sehr hasst. Daher hat er entschieden, eine Volksabstimmung durchzuführen.
Man könnte ein ganzes Buch darüber schreiben, wie absurd diese Abstimmung durchgeführt wurde. Hier nur einige Fakten über den stattgefundenen Zirkus Putins: 1) Die Überwachung der Wahl seitens der Bürger war stark begrenzt. 2) Die Abstimmung folgte keinem einzelnen vorher gegebenen Gesetz. 3) Für die insgesamt 206 Verfassungsänderung gab es nur eine gemeinsame Frage, ob die Bevölkerung allen diesen Änderungen zusammen zustimmt oder nicht. Diese lustige Absurdität hat die Vorsitzende der zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa am besten beschrieben: „Ich habe über Begriffe nachgedacht, damit es zu keiner Verwirrung kommt. Lasst uns den Begriff einer exklusiven, einmaligen, unikalen Aktion einführen, damit es keine Verwirrung und keine Verweise auf die aktuelle Gesetzgebung gibt“. (Quelle) Somit sind offiziell aber weit nicht tatsächlich für die Verfassungsänderungen 77,9% Stimmen abgegeben worden.
Nawalny
Nun ist Putins Zukunft fast gesichert, es fehlt nur noch der letzte Schliff. Die fiktive Abstimmung hat in dem alten Mann eine falsche Vorstellung von seinem Volk erweckt. Die Abstimmung erweckte in Putin die Vorstellung, dass das Volk zufrieden mit seinem Regime sei. Zudem gab es gegen die Verfassungsänderung keine Proteste, was seine Vorstellung eines zufriedenen Volkes verstärkte. Zwar gab es zahlreiche Proteste in Chabarowsk, welche aber nicht viel mit den Verfassungsänderungen zu tun hatten. In Großstädten wie Moskau und Sankt Petersburg fanden keine Proteste statt. Nawalny entschied sich, während der Pandemie nichts zu tun. Mitglieder der Libertären Partei Russlands und der Bewegung „die Zivilgesellschaft“ haben am 10. März beim Bürgermeisteramt Moskaus Proteste angemeldet. Aber am gleichen Tag hat der Bürgermeister die Verordnung bezüglich Massenveranstaltungen aufgrund der Corona-Situation erlassen und die Proteste verboten: Ein purer Zufall.
Also denkt Putin, er sei ein beim Volk beliebter Führer, der jetzt sorglos und unendlich regieren kann. Um sich eine ewige Herrschaft zu garantieren, muss er noch das kleine Hemmnis bewältigen und Alexei Nawalny beseitigen. Dafür wurde Nawalny am 20. August 2020 mit einem Kampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet. Ein Staat und insbesondere ein autoritärer korrupter Staat können bekanntlich kaum etwas erreichen. Zum Glück gilt dies auch für Attentatsversuche oppositioneller Politiker. Man kann legitimerweise die Frage stellen, warum es mit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Putin und nicht ein anderer Oligarch war, der die Vergiftung geordert hat. Es gibt mehrere Gründe dafür: Erstens können keine Oligarchen solche Entscheidungen ohne die Erlaubnis ihres Chefs treffen. Wenn sie eine solche wichtige Entscheidung ohne Rücksicht auf Putin treffen, müssen sie mit schweren Konsequenzen rechnen.
Zweitens hat Putin seit langem einen starken Anreiz, seine Gegner endgültig zu zerstören. Dieser Wunsch spiegelt sich in seinen Repressionen wider. In Büros der Stiftung zur Korruptionsbekämpfung (die Nawalny leitet) wurden hunderte Durchsuchungen durchgeführt, bei denen alles Mögliche konfisziert wurde. Für mehrere Mitglieder der Stiftung wurden einfach Straftatbestände erfunden. Hunderte Bankkonten von Mitgliedern der Stiftung und ihren Familienmitgliedern wurden gesperrt. Als Konsequenz wurde Nawalny gezwungen, eine neue Stiftung zu eröffnen. Trotz dieser Umstände hörten Nawalny und seine Kollegen nicht auf zu kämpfen. Für Putin gab es daher nur noch eine einzige Art und Weise, wie er Nawalny noch stoppen konnte, und genau das hat er mutmaßlich versucht.
Drittens wurde Nawalny mit einem überall auf der Welt verbotenen Kampfstoff vergiftet. Zu einem solchen Kampfstoff hat nur die Machtspitze Zugang. Über den Einsatz dieses Stoffs können in Russland nur zwei Menschen entscheiden, und zwar der Direktor des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) und der Direktor des Auslandsgeheimdienst (SWR). Außerdem wurde bereits ein anderer Kampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe eingesetzt, um Sergei Skripal am 4. März 2018 zu vergiften. Ein einfacher Oligarch kann dagegen nicht einen überall verbotenen Kampfstoff einsetzen, der lediglich für zwei Menschen aus den Geheimdiensten zugänglich ist, um einen ärgerlichen Politiker umzubringen. (Ja, dies gilt auch für russische Oligarchen.) Also kann man davon ausgehen, dass das Attentat von Putin verordnet wurde. Es stellt sich aber eine weitere wichtige Frage.
Parlamentswahlen 2021
Warum hat Putin aller Voraussicht nach Nawalny jetzt und nicht irgendwann später vergiftet? Der Hauptgrund dafür sind die Wahlen der Staatsduma im Jahr 2021. Am 1. November zeigte die Putinpartei bei Wahlumfragen ein lächerlich niedriges Ergebnis von 30% (im Parlament hat seine Partei gerade ungefähr 75% aller Sitze). Die schlechten Umfragewerte und Nawalnys Abstimmungsstrategie sind gerade die größten Probleme, die Putin im Wege zur ewigen Herrschaft stehen. Nawalnys Strategie wurde zwei Jahre lang entwickelt und in mehreren kommunalen Wahlen geübt, um Putins Partei bei den folgenden Wahlen abzuwählen.
Die sogenannte „kluge Abstimmung“ bedeutet eine Abstimmung für denjenigen Kandidaten, der am populärsten ist und nicht zur Putinpartei gehört. Damit besteht der Sinn dieser Abstimmung nicht darin, einer bestimmten, angeblich oppositionellen Partei Macht zu schenken (denn die echten oppositionellen Kandidaten werden zu keiner Wahl zugelassen), sondern beträchtliche Fälschungen und darauffolgende Proteste aufzulösen. Obwohl die russische Regierung und insbesondere Putin kaum etwas für ihre Bevölkerung leisten können, gehören sie zu den besten Experten in der Frage des Machterhaltes und verstehen die Gefahr einer solcher Strategie.
Schwindler und Diebe haben immer Angst, wenn ihre Nachbarn und Freunde verurteilt werden. Die aktuellen Ereignisse in Weißrussland um Lukaschenka haben Putin gelehrt, dass man alle Gegner frühzeitig beseitigen muss. Weißrussland lehrt, dass es nicht ausreicht, alle oppositionellen Politiker genau vor der Wahl ins Gefängnis zu stecken, weil immer neue Oppositionsführer auftauchen werden. Die Lösung aus dieser schwierigen Situation fand Putin höchstwahrscheinlich in einem Mordversuch. Nicht nur wird der Hauptgegner dadurch endgültig beseitigt, sondern auch eine Angst erzeugt, wodurch jeder Mensch vor dem Einstieg in die Politik abgeschreckt wird.
Die Abwesenheit von Protesten sowohl nach der Volksabstimmung für die Verfassungsänderungen als auch nach dem Versuch eines Mordes lässt Putin freie Hand. Soweit das Volk nicht auf die Straßen kommt, werden weitere Fälschungen und Repressionen von Putin folgen. Es ist lediglich Glück, dass Nawalny weiterhin am Leben ist. Sich aber auf einen solchen Zufall zu verlassen ist eine strafbare Fahrlässigkeit, auf die die russische Zivilgesellschaft keinen Anspruch hat. Das Jahr 2020 war sehr fruchtbar für das gekrönte Haupt und gleichzeitig fruchtlos und schädlich für die Gesellschaft. Repressionen und Einschränkungen in Verbindung mit Corona haben die Proteste auf null gesetzt. Putin hat gezeigt, dass er für seinen Machterhalt Opfer bringen wird. Nun muss das russische Volk zeigen, dass es für seine Freiheit einsteht! Die Parlamentswahlen 2021 bieten eine der letzten Gelegenheiten, sich zu bewähren und den Freiheitsdrang zu beweisen.