In einem Gastbeitrag bei der FAZ argumentiert der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz, dass Steuerhinterziehung ein Betrug an uns allen sowie schädlich ist. Aber Bayaz geht von idealen Annahmen aus. Ein realistischer Blick zeigt ein komplexeres Bild.
In einer rosaroten Märchenwelt können wir uns einen Staat vorstellen, der die Zustimmung aller Bürger genießt. Auf die Höhe der Steuern haben sich die Bürger gemeinsam geeinigt. Die Steuern werden für jene – und nur für jene – Dinge verwendet, für die sich Konsens gefunden hat. Und schlussendlich sind die Politiker und Beamten dieses Traumlandes stets in der Lage, die Ziele zu verwirklichen, auf die sich die Bürger geeinigt haben.
In dieser Utopie würde es uns allen als ungerecht, verwerflich und schädlich vorkommen, sollte eine Bewohnerin keine Steuern zahlen, sollte ein Bewohner Steuern hinterziehen. Aber in dieser Utopie leben wir nicht. Die Welt ist grau, weder schwarz noch rosarot.
Steuerhinterziehung mag in jedem Falle Betrug sein, ganz einfach, weil wir es so definieren. Verwerflich macht das diesen Betrug aber nicht notwendigerweise. Denn wir haben uns nicht alle darauf geeinigt, in 2021 Steuern und Abgaben von durchschnittlich voraussichtlich 52,9 Prozent zu zahlen. Und wir haben uns auch nicht alle darauf geeinigt, wofür diese Gelder verwendet werden. Wer gezwungen wird und sich dagegen mit betrügerischen Mitteln wehrt, handelt nicht unbedingt unlauter. Er ist kein Ladendieb, der stiehlt, weil ihm die Preise zu hoch sind. Er ist, wenn überhaupt, ein Ladendieb, der denjenigen bestiehlt, der ihm die Hälfte des Lohnes abknöpfen will. Vielleicht ist das ungerecht gegenüber den anderen, die die erhobenen Steuern zahlen. Aber wäre dann die Lösung nicht eher, die Steuern so zu gestalten, dass alle ihnen zustimmen? Und wäre der Verwerfliche nicht der, der wider dem Willen der Bürger so hohe Steuern eintreibt? Bayaz‘ Verweis auf die Demokratie ist nicht hilfreich. Erstens kann auch eine Mehrheit tyrannisch sein. Und zweitens ist es naiv, davon auszugehen, dass diese Mehrheit so großen Einfluss nimmt. Die Mitglieder des Parlaments entscheiden, und diese haben genauso ihre Eigeninteressen wie die mächtigen Interessenvereinigungen, mit denen sie verbandelt sind. Ist es unmoralisch, einem Staat Steuern zu hinterziehen, dessen Elite, die letztlich die Steuern festlegt und verwendet, vielleicht auch nicht ganz koscher ist? Was auch immer man urteilen mag. In einer grauen Welt stimmt nicht, dass Steuerhinterziehung per se verwerflich ist.
Der zweite große Punkt, der in Bayaz‘ Argumentation durchschimmert, ist die Schädlichkeit der Steuerhinterziehung. Wer Steuern hinterzieht, entzieht dem Staat viel Geld. „Geld, das für Schulen, Kitas, Polizei, Straßen- und Radwege oder Klimaschutz investiert werden könnte.“ Könnte! Zuerst einmal könnte der Steuerhinterzieher sein hinterzogenes Geld auch für solche Belange spenden. Viele Dinge sind möglich. Das Steuergeld könnte nämlich auch in den Taschen luftiger Berater oder der Politiker selbst landen, es könnte für Wahlgeschenke an Interessengruppen verwendet werden, für Provisionen bei Maskendeals oder vielleicht für die Unterstützung zukünftiger Arbeitgeber – die „revolving door“. Nur ist gerade nicht die Frage, was möglich ist, sondern was passiert. Hier ist die Welt wieder grau. Steuern werden für gute und für schlechte Zwecke verwendet. Aber anzudeuten, wer Steuergelder hinterzieht schadet damit notwendigerweise allen, ist falsch. Wem würde schon geschadet, wenn Andreas Scheuer kein Geld für Mautgeschichten zur Verfügung hätte?
Aber noch nicht genug. Denn gute Intentionen sind nicht hinreichend für gute Ergebnisse. Vielleicht würden die Politiker und Beamte das Geld für die guten Zwecke, die Bayaz anführt, verwenden. Das heißt aber noch nicht, dass sie damit erfolgreich wären. Die Chance ist nicht gering, dass das Geld für Straßen, die keiner braucht, Opern und Foren, die nicht fertig werden und zig mal so viel kosten wie geplant oder einen Klimaschutz, der vollkommen ineffizient ist, verpulvert werden würde. Ein illustres Beispiel ist die Energiewende, die erst kürzlich einer vernichtenden Kritik seitens des Bundesrechnungshofs unterzogen wurde. Angesichts der Unfähigkeit des Staates in vielen Bereichen ist den Bürgern vielleicht mehr geholfen, wenn dieser weniger Spielraum für Projekte hat. – Und das Geld in der Hand der Privatleute, der Unternehmer bleibt, die wissen, wie man effizient die Bedürfnisse der Konsumenten befriedigt. Denn auch das übersieht Bayaz: die hinterzogenen Steuern sind ja nicht futsch, sondern in der Hand eines anderen. Vielleicht eines Unternehmens, das nun sinnvolle Investitionen tätigen kann. Vielleicht in der Hand eines eisernen Sparers, der sein Geld anlegt, anstatt es für sofortigen Konsum auszugeben, wie der Staat es so häufig tut.
Der Spieß kann sich gar umdrehen. Dann nämlich, wenn die Staatseingriffe nicht nur keinen Nutzen bringen, sondern direkt schaden. Zum Beispiel indem der Staat ohne großen Nutzen die Strompreise für deutsche Haushalte nach oben schnellen lässt. Zum Beispiel indem der Staat – dem Wunsch Bayaz‘ nach „gleichen Regeln für alle“ zuwiderhandelnd – Banken mit Steuergeldern rettet oder Despoten und Autokraten mit Entwicklungshilfen fördert. Zum Beispiel indem er Unternehmen wie Wirecard protegiert – etwas, das Bayaz selbst kritisiert hat –, die daraufhin mit riesigem Schaden für den Kleinanleger pleitegehen. Zum Beispiel indem der Staat Subventionen (wie die Abwrackprämie) verteilt und den Marktprozess durch diverse Regulierungen verzerrt. Wer nun Steuern hinterzieht und so verhindert, dass vom Staat die nächste Pleite-Bank gerettet wird, handelt vielleicht gerade im Interesse seiner Mitbürger – von einigen Bankiers und manchen Politikern mal abgesehen.
An dieser Stelle sei noch Bayaz‘ korrektes Argument erwähnt, dass Steuerhinterziehung zu einer unliebsamen Wettbewerbsverzerrung führt. Ja, es ist schlecht, dass jene Unternehmen Vorteile erheischen können, die besser als andere Steuern hinterziehen können – und nicht besser als andere entsprechend der Wünsche der Konsumenten produzieren. Doch ist diese Wettbewerbsverzerrung möglicherweise ein Preis, den man zu zahlen gewillt sein muss, wenn man die Bedürfnisse der Bürger ganz oben hinstellt. Denn diese Bedürfnisse laufen Gefahr missachtet zu werden, wenn es mehr Staat gibt.
Die Utopie, die Bayaz sich vorstellt, gibt es nicht. Wir leben in einer grauen Welt, wo wir auch Steuern zahlen müssen, die wir nicht zahlen wollen. Wo unsere Steuern auch für Dinge ver(sch)wendet werden, die wir ablehnen. Wo Politiker und Beamte häufig nicht in der Lage sind, die Ziele zu verwirklichen, die sie anstreben – oft mit Schaden für die Bürger. In einer solchen Welt gibt es keine einfachen Urteile. Wer Steuern hinterzieht, hilft vielleicht sogar seinen Mitmenschen. Wer Steuern hinterzieht, die ihm aufgezwungen werden, handelt vielleicht gar nicht verwerflich.