Im Gegensatz zu den politischen Philosophien des Konservatismus und des Sozialismus bietet der Liberalismus kein eigenständiges Konzept der Sinnhaftigkeit der Existenz an. Im Gegenteil, er zeichnet sich gerade durch seine diesbezügliche Negativität aus. Jeder Mensch hat im Liberalismus das Recht, seinen eigenen Lebenssinn zu finden.
Dieses fundamentale Recht ist Ausdruck der liberalen Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Es begründet die humanistische Attraktivität des Liberalismus als Grundlage einer offenen Gesellschaft. Dieses Recht ist aber gleichzeitig auch eine Bürde, da es im Konkreten nur schwer zu greifen ist. Niemand findet unmittelbaren Sinn in dem Recht, sich selbst einen Sinn zu suchen.
Dabei ist die Suche nach einem Sinn der eigenen Existenz ein menschliches Grundbedürfnis, wie der Psychotherapeut Viktor Frankl (1905-1997), der selbst die Konzentrationslager Auschwitz und Dachau überlebte, in „Das Leiden am sinnlosen Leben“ beschrieb.
Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass im gleichen Maß, wie der Liberalismus seinen Siegeszug antrat, die Menschen aus den gröbsten materiellen Nöten befreite und in die soziale wie politische Selbstbestimmung entließ, er sie auch zur Konfrontation mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz zwang. So stellte Frankl fest, dass jede Zeit ihre eigene Neurose hat. Was bei Freud noch die sexuelle Frustration war, ist in den modernen Wohlstandsgesellschaften eine existenzielle Frustration, ein abgründiges Sinnlosigkeitsgefühl. Der Erfolg des liberalen Kapitalismus hat uns sowohl aus den Banden der sozialen Pflichterfüllung als auch von dem Joch des beschwerlichen Selbsterhalts befreit – damit aber auch von dem, was seit jeher Sinn gestiftet hat.
Wenn es aber keinen verbindlichen Kollektivsinn mehr gibt, droht allein das Leeregefühl vergesellschaftet zu werden, was Frankl als existenzielles Vakuum beschrieb: „Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muss, und im Gegensatz zum Menschen von gestern sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er soll. Nun, weder wissend, was er muss, noch wissend, was er soll, scheint er oftmals nicht mehr recht zu wissen, was er im Grunde will. So will er denn nur das, was die anderen tun – Konformismus! Oder aber er tut nur das, was die anderen wollen – von ihm wollen – Totalitarismus.“
Dieses Hin-und-her-Geworfensein zwischen Konformismus und Totalitarismus kann auch erklären, warum die einfachen Parolen der kollektivistischen Populisten links wie rechts immer wieder Anziehungskraft entfalten können. Eine simple Identifikation mit der Nation oder der Klasse verheißt einen einfachen Ausweg aus dieser existenziellen Frustration. Denn einen Sinn für das eigene Leben und Handeln zu finden, ist keine triviale Herausforderung in einer offenen Gesellschaft, die keine verbindlichen Kollektivzwecke vorgibt. Freiheit bedingt die Übernahme von Verantwortung. Freiheit für sich zu reklamieren bedeutet, die Eigenverantwortung zu reklamieren. Und Verantwortung ist müßig.
Zu viele Liberale scheinen nach dem Kollaps des Sozialismus die Hände in den intellektuellen Schoß gelegt und sich auf dem “Ende der Geschichte” ausgeruht zu haben. Daher krankt der gegenwärtige Liberalismus zu oft an einer unterkomplexen Laissez-faire-Rhetorik, die suggeriert, dass sich die Dinge schon irgendwie regeln werden. Es sind aber nicht die Dinge, die sich regeln, sondern Menschen, die Verantwortung für diese Dinge übernehmen, regeln diese Dinge. Es sind Unternehmer, die Produkte und Dienste anbieten, die das Leben ihrer Mitmenschen verbessern, es sind Nachbarn und Freunde, die Menschen in Not helfen. Es sind Angehörige, die Kranke und Gebrechliche pflegen. Es scheint mitunter weniger die offene Tyrannei, die unsere Freiheit bedroht, sondern die Bequemlichkeit der Unfreiheit, die Verweigerung von Verantwortung und damit die Angst vor der Herausforderung der Sinnsuche im eigenen Leben.
Manche suchen ihn in den alten Lehren der Stoiker, andere finden ihn in der Zurschaustellung ihres vermeintlichen Status‘ durch Konsumgüter und wieder andere finden ihn bei der wöchentlichen Weltrettung am Freitagvormittag. Aber erst wenn es uns gelingt, die konkrete Sinnhaftigkeit von Freiheit und Eigenverantwortung im täglichen Leben wieder aufzuzeigen, kann die Sinnsuche in der offenen Gesellschaft wieder eine Verheißung sein und keine Bürde.
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