Der Staat nudgt uns, damit wir unsere Präferenzen besser befriedigen – und das ohne unsere Autonomie einzuschränken?! Was attraktiv klingt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Illusion.
2008 veröffentlichten Cass R. Sunstein und Richard H. Thaler ihr Buch Nudging. 2017 erhielten sie für ihre wegweisende Idee gar den Nobelpreis. Ihre Diagnose: wir alle sind nicht perfekt rational. Keiner entspricht dem Homo Oeconomicus. Stattdessen haben wir alle ‘cognitive biases’. Demnach sind wir gar nicht in der Lage, unsere eigenen Präferenzen bestmöglich zu befriedigen.
So kann es sein, dass wir von sogenannten Framing-Effekten abhängig sind, also z.B. einfach die vorausgewählte Option wählen: wenn die vorausgewählte Option ist, unsere Organe im Todesfall nicht zu spenden, dann bleiben wir dabei; aber wenn die “default option” die Organspende ist, dann bleiben wir ebenso dabei. Oder wir haben Zeitinkonsistenzen: Wir wollen eigentlich ein gesundes Leben führen, aber wenn wir im Restaurant eine Cola bestellen können, tun wir das. Obwohl wir uns doch eigentlich vorgenommen hatten, keine ungesunden Getränke mehr zu trinken, sondern einen gesunden Lebensstil zu pflegen. Denn in dem Moment erscheint uns der kurzfristige Genuss wichtiger als unsere langfristigen Präferenzen.
Die Idee hinter libertärem Paternalismus
Abhilfe finden Sunstein und Thaler im staatlichen Nudging. Ein erstes Beispiel findet sich auf Zigarettenschachteln: abstoßende Bilder sollen uns vom Rauchen abhalten. Ein anderes Beispiel ist der Nutri-Score in deutschen Supermärkten, wodurch wir lieber zum gesunden Wasser als zur zuckerhaltigen Cola greifen sollen. Da aber die Entscheidung, die Cola oder die Zigaretten zu kaufen, uns weiterhin offen steht, ist Nudging “libertarian” – also mit einem liberalen Weltbild vereinbar, so die beiden Amerikaner. Niemand wird gezwungen, eine Zigarette nicht zu kaufen, genauso wie es niemandem verboten ist, die Cola doch zu bestellen, wenn er es denn wirklich will. Beim Nudging wird also lediglich die Entscheidungsarchitektur verändert. So sind die Akteure besser in der Lage, ihre eigenen Präferenzen zu erfüllen. Kurz gesagt: Nudging soll uns helfen, mit unseren eigenen Biases besser umzugehen.
Und hier kommt das zweite Element ins Spiel, der Paternalismus. Sunstein und Thaler meinen damit, dass es den “genudgten” Akteuren besser geht, wenn sie vom Staat hier und da in die gesündere Richtung geschubst werden, als wenn sie ihre Entscheidung komplett alleine treffen müssten. Da paternalistisch, geht es also nicht darum, dass Menschen gesünder sind, denn ob sie gesund sein wollen, ist ja ihre eigene Präferenz. Und genauso wenig geht es um eine Entlastung der Krankenkassen im Sinne der Steuerzahler oder vielleicht darum, dass es Sunstein und Thaler erfreut, wenn andere weniger Cola trinken. Es geht schlicht darum, dass die Bürgerinnen besser ihre eigenen Präferenzen befriedigen können – woran sie ja wegen ihrer ‘cognitive biases’ scheitern.
Die Fallstricke des libertären Paternalismus
Der libertäre Paternalismus klingt auf den ersten Blick verlockend. Aber er beinhaltet riesige Fallstricke. Von der Diagnose, dass Menschen ‘cognitive biases’ haben, ist es ein sehr weiter Weg hin zu der Annahme, dass staatliche Regulierung ihnen helfen kann, ihre eigenen Präferenzen besser zu erfüllen – und das mit liberalen Maßnahmen.
Eine erste Hürde besteht in der Bestimmung der wahren Präferenzen der Bürgerinnen. Folgt man der Nudging-Theorie, erkennen wir diese ja gerade nicht, indem wir uns das Handeln der Bürger ansehen. Dieses Handeln ist ja durch Biases verzerrt, und die Akteure haben beispielsweise mehrere Ichs mit unterschiedlicher Zeitpräferenz. Nur: was sind dann die wahren Präferenzen? Welche Zeitpräferenz ist die richtige? Jene, wonach ich langfristig gesund sein und auf die Cola verzichten will, oder die andere, wonach ich den kurzfristigen Genuss des Süßgetränks vorziehe? Wenn das Nudgen paternalistisch sein soll, dann ist ausschließlich relevant, was die Bürger wollen. Und wie soll der Nudger, der möglicherweise eine Inkonsistenz feststellt, dies in Erfahrung bringen?
Aber man nimmt schon viel an, wenn man davon ausgeht, dass die Nudger wüssten, welche verschiedenen Zeitpräferenzen die Bürger haben. In Wirklichkeit stehen die Paternalisten vor einem riesigen Wissensproblem: sie kennen weder die wahren Präferenzen der Akteure noch das Ausmaß der ‘cognitive biases’, die zudem ein komplexes, interdependentes Gewebe bilden, noch die daher notwendigen Nudges. Denn wenn der Bias nur schwach ist, bedarf es auch nur eines schwachen Nudges. Die Unmöglichkeit dieser Aufgabe wird noch klarer, wenn man bedenkt, dass Nudging für jeden individuell gestaltet werden müsste. Denn jeder hat unterschiedliche Präferenzen, unterschiedlich starke Biases und braucht daher unterschiedlich starke Nudges. Für den einen müsste die Zigarettenpackung ein kleines, für den anderen ein großes Bild und für den nächsten vielleicht gar einen Spruch, der eine gesundheitsfördernde Wirkung des Rauchens anpreist, aufweisen. Aber ein so individualisiertes Nudging ist unmöglich.
Und ein weiteres Problem liegt geradezu auf der Hand. Denn die Nudger selbst sind ja ebenso nicht rational – das ist ja gerade die Erkenntnis von Thaler und Sunstein. Nur wer soll die Nudger nudgen, damit sie aufgrund ihrer eigenen Biases den Bürgern mit ihren Nudges nicht in Wahrheit schaden? Um genau zu sein, dürften die Biases bei den Nudgern noch schlimmer sein, da diese deutlich schwächere Anreize haben, gute Politik für andere zu machen. Die klassischen Anreizprobleme, die die Public-Choice-Theorie aufzeigt, finden hier voll Anklang: in der Tendenz werden politische Entscheidungsträger und Bürokraten ihr eigenes Wohlwollen hauptsächlich im Blick haben.
Selbstregulierung als im Vergleich beste Lösung
Die Bürgerinnen selbst, hingegen, haben starke Anreize, Wege zur Selbstregulierung zu suchen – und oft sind sie dazu auch gut in der Lage. Zum Beispiel, indem sie proaktiv Restaurants vermeiden, in denen ungesunde Getränke angeboten werden, sich für einen Teamsport anmelden, in dem der Teamgeist sanften Druck zum Sportmachen ausübt oder sie Fitness-Apps verwenden. Nicht zuletzt ist diese Selbstregulierung und der bessere Umgang mit den eigenen Imperfektionen aber ein Lernprozess, für den die Bürger aber auch Verantwortung sowie Fehler machen müssen.
Ja, ein ernstgemeinter libertärer Paternalismus legt nahe, dass jede Einzelne selbst am besten in der Lage ist, mit den eigenen Biases umzugehen. Das heißt nicht, dass sie es perfekt kann. Aber in einer vergleichenden Analyse liegt nahe, dass die vielen Herausforderungen für rationales Handeln von den Einzelnen deutlich besser bewältigt werden können – zumal gerade das ihre Freiheit bewahrt. Denn weder besitzen die Staatsbediensteten das Wissen noch haben sie die richtigen Anreize, passende Maßnahmen zu ergreifen; und bei einer eingehenderen Analyse würden noch weitere Probleme des libertären Paternalismus und des Nudgens zutage treten, wie die Gefahr von “slippery slopes”, womit gemeint ist, dass mit sanften, Nudges begonnen wird, am Ende aber zunehmend restriktivere Regulierungen vorgenommen werden – sodass am Ende die Freiheit mehr und mehr verschwindet.
Wer ein genuines Interesse daran hat, dass die Menschen ihre wahren Präferenzen bestmöglich erfüllen, der sollte ihnen ihre freie Entscheidungsmacht lassen – und versuchen, ihnen auf dem Wege dabei zu helfen. Sei es mit freiwilligen Bildungsangeboten über Biases oder mit Ratschlägen zur besseren Selbstregulierung.