Buchrezension: “Cynical Theories” – Pluckrose & Lindsay

von Stefan Kosak

Postmodernismus ist ein Buzzword. Wer besser verstehen will, was postmodernes Denken ausmacht, welchen Einfluss es auf unser heutiges Leben hat und was Kritikpunkte sind, ist bei Helen Pluckrose und James Lindsay und ihrem Buch Cynical Theories gut aufgehoben. Eine Rezension von Stefan Kosak.

Helen Pluckrose ist eine britische Publizistin und unabhängige Wissenschaftlerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politischer Liberalismus, Postmoderne, Kritische Theorie und Feminismus. Sie ist außerdem Gründerin von Counterweight, einer Initiative, die sich für soziale Gerechtigkeit im Sinne des klassischen Liberalismus der Aufklärung einsetzt. James Lindsay ist ein US-amerikanischer Publizist und Mathematiker. Bekannt wurde er als Mitinitiator der Grievance Studies Affair, bei der Hoax-Artikel bei wissenschaftlichen Zeitschriften eingereicht wurden, um deren Qualitätsstandards auf die Probe zu stellen. Beide Autoren verbindet die kritische Auseinandersetzung mit der Postmoderne und die Wertschätzung des Liberalismus in der Tradition der Aufklärung.

Pluckrose und Lindsay haben ihr Buch Cynical Theories. How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender and Identity – and Why This Harms Everybody in 2020 vorgelegt. Wie der Titel bereits andeutet, beleuchten die Autoren darin die intellektuellen Grundlagen der identitätspolitischen Bewegung und zeigen auf, welch destruktiven Einfluss die Umsetzung dieser Ideen auf das gesellschaftliche Zusammenleben hat. Das Buch hat seit seinem Erscheinen große Aufmerksamkeit erregt und wurde unter anderem von der Financial Times als Buch des Jahres ausgezeichnet. Eine deutsche Übersetzung ist 2022 erschienen.

In den ersten beiden Kapiteln befassen sich Pluckrose und Lindsay mit den theoretischen Grundlagen der Identitätspolitik. Zunächst beleuchten sie die erkenntnis- und gesellschaftstheoretischen Positionen der Postmoderne, die ab den 1960er Jahren von Denkern wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder Jean-François Lyotard begründet wurde. Die ursprüngliche Variante der Postmoderne zielte vor allem darauf ab, die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch spielerische Interventionen zu irritieren, verfolgte aber nur einen begrenzten politischen Gestaltungsanspruch. Im zweiten Kapitel zeigen die Autoren, wie im Anschluss an die Grundideen des frühen postmodernen Denkens ab den 1980er Jahren verschiedene Wissenschaftszweige begründet wurden, die Pluckrose und Lindsay unter dem Begriff des “angewandten Postmodernismus” zusammenfassen. In dieser späteren Variante postmodernen Denkens, die konkrete Gesellschaftsentwürfe realisieren will, erkennen die Autoren den intellektuellen Nährboden für die identitätspolitische Bewegung in ihren verschiedenen Ausprägungen.

In den Kapiteln drei bis sieben setzen sich die Autoren ausführlich mit Forschungsansätzen zu verschiedenen gesellschafts- und sozialpolitischen Problemen auseinander, die sie der “angewandten Postmoderne” zuordnen. Zunächst geht es um Gegenstand und Perspektiven des Postkolonialismus. Dessen Grundanliegen sehen die Autoren darin, westliche Denkweisen zu dekonstruieren, um eine grundsätzliche Aufhebung aller Formen der Kolonialisierung zu erreichen. Im Anschluss daran werden die Standpunkte der Queer-Theorie beleuchtet. Diese sei bestrebt, alle Kategorisierungen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität als soziale Konstruktionen zu entlarven, um die als unterdrückend empfundenen Normierungen aufzulösen.

Das fünfte Kapitel ist der Critical Race Theory gewidmet. Das Hauptmerkmal dieses Forschungsansatzes sehen die Autoren darin, dass Diskriminierung vor allem als strukturelles Problem dargestellt wird. Rassismus soll demnach überwunden werden, indem der diskriminierende Teil der Bevölkerung fortlaufend auf seine allgegenwärtigen rassistischen Denkweisen aufmerksam gemacht wird. Anschließend gehen die Autoren auf den intersektionalen Feminismus und die Gender Studies ein. Ähnlich wie die Critical Race Theory gingen diese Ansätze davon aus, dass alle zwischenmenschlichen Interaktionen von patriarchalen Strukturen geprägt seien. Um Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu überwinden, müssten daher die Privilegien weißer, heterosexueller Menschen überwunden werden. Zum Abschluss dieses Teils werden die so genannten Disability Studies und Fat Studies beleuchtet. Deren Hauptmerkmal sehen Pluckrose und Lindsay darin, dass gesundheitsbezogene Kategorien grundsätzlich als soziale Konstruktionen betrachtet werden, die die Betroffenen diskriminieren.

In Kapitel acht zeigen Pluckrose und Lindsay auf, wie sich die Ausrichtung des Postmodernismus in den 2010er Jahren noch einmal gewandelt hat. Die postmodernen Forschungsansätze wurden hier zum übergeordneten Programm der Social-Justice-Forschung mit einheitlichen methodischen Standards zusammengeführt. Die Vertreter der Social-Justice-Forschung vertreten daraufhin einen absoluten Wahrheitsanspruch ihrer Ansätze. Angesichts dieser Entwicklung sprechen die Autoren von einem “verdinglichten Postmodernismus”.

Im letzten Teil des Buches zeigen die Autoren, wie die Social-Justice-Forschung über die Wissenschaft hinaus in verschiedene gesellschaftliche Bereiche hineinwirkt, um die lebensweltliche Umsetzung der Ideen sichtbar zu machen. Abschließend stellen Pluckrose und Lindsay ihren Gegenentwurf zu den Bestrebungen der Social-Justice-Bewegung vor. Diese Alternative soll zeigen, dass soziale Gerechtigkeit am effektivsten erreicht werden kann, wenn man sich für die universelle Verwirklichung liberaler Prinzipien einsetzt und auf identitätspolitische Bestrebungen mit ihren destruktiven Folgen verzichtet.

Pluckrose und Lindsay gelingt in ihrem Buch eine pointierte Darstellung der intellektuellen Grundlagen der identitätspolitischen Bewegung, auch wenn die Darstellung der ideengeschichtlichen Entwicklung mitunter etwas schemenhaft ausfällt und sicherlich nicht alle Nuancen der jeweiligen Denkerinnen und Denker berücksichtigt. Dennoch bietet die Darstellung einen leicht zugänglichen Einstieg für diejenigen, die sich mit den Grundzügen der postmodernen Theorie vertraut machen wollen. Der größte Verdienst des Buches liegt jedoch in der Darstellung, wie die verschiedenen aktivistischen Wissenschaftszweige an die Ideen der postmodernen Theorie anknüpfen, da dies zu einem tieferen Verständnis der  identitätspolitischen Bewegung beiträgt. Die kritische Auseinandersetzung mit dieser Bewegung erscheint gerade vor dem Hintergrund aktueller Konflikte wie den Boykottforderungen gegen westliche Staaten aktueller denn je.

Hervorzuheben ist aber auch die differenzierte Sichtweise der Autoren. Sie benennen klar die Probleme der Social-Justice-Theorie und der damit verbundenen aktivistischen Bewegungen, ohne jedoch deren berechtigtes Anliegen – die Beseitigung von Rassismus, Sexismus und anderen Formen der Diskriminierung – aus den Augen zu verlieren. Mit ihrem Gegenentwurf zeigen Pluckrose und Lindsay eine konstruktive Perspektive für den Umgang mit bestehenden Problemen sozialer Ungerechtigkeit in der Tradition des Liberalismus auf. Damit bleibt das Buch nicht bei der Kritik stehen, sondern leistet einen lösungsorientierten Beitrag zur aktuellen gesellschaftlichen Debatte.

Cynical Theories ist 2020 bei Pitchstone Publishing erschienen. Der Umfang beträgt 351 Seiten. Die deutsche Übersetzung ist 2022 bei C.H. Beck erschienen.

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